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Schuleinsichten Ost und West

Von Nicole Gohlke, Diana Golze, erschienen in Clara, Ausgabe 17,

Sie stammen aus Brandenburg und Bayern. Diana Golze und Nicole Gohlke sind beide Jahrgang 1975.
Ihr Bildungsweg konnte unterschiedlicher nicht sein. Ihr gemeinsamer Wunsch: eine Gemeinschaftsschule.

Nicole Gohlke
»Ich bin ein für Westdeutschland der 1970er Jahre untypisches Kind: Meine Eltern waren beide berufstätig, mit drei Jahren ging ich schon in den Kindergarten. Danach folgte eine typische Bildungsbiographie im gegliederten bayerischen Schulsystem: vierjährige Grundschulzeit, inklusive des großen Bangens und Zitterns für alle Schüler um das Übertrittszeugnis in der Mitte der
4. Klasse. Danach: neunjährige Gymnasialzeit mit neusprachlicher Ausrichtung. Allerdings zwang mich die Oberstufe mit ihrem Kursunterricht zum Schulwechsel. Das staatliche Gymnasium ließ nur eine eingeschränkte Anzahl von Leistungskursen zu. Kriterium waren nicht die Anzahl der Interessierten, sondern letztlich Prestigeabwägungen. Der mit sieben Leuten besetzte Chemie-Leistungskurs fand statt, nicht aber der mit 23 Lernwilligen besetzte Leistungskurs Geschichte/Sozialkunde. Der Schulwechsel von der staatlichen an die städtische Schule brachte mir Gutes. Die städtische Schule, die der SPD-regierten Stadt München unterstellt war, bot etwas mehr politischen und links-kulturellen Freiraum als das staatliche Gymnasium, dessen Rektor zugleich Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes war.«

Diana Golze
»Meine Schulzeit muss ich in zwei Phasen teilen: meine ersten Jahre an der Poly-technischen Oberschule ›Clara Zetkin‹ in der DDR und meine Abiturzeit am Einstein-Gymnasium nach der Wende.
Mein Aufwachsen im real-sozialistischen Bildungssystem war klassisch: Kinderkrippe, Kindergarten, Polytechnische Oberschule. Hätte sich das Land um mich herum nicht aufgelöst und neu erfunden, hätte ich zehn Jahre lang in einem festen Klassenverband gelernt. Mit Lernpatenschaften, nach zentralen Unterrichtsplänen und mit zwei weiteren Schuljahren hätte ich an der Erweiterten Oberschule das Abitur gemacht. Es kam anders, ich wurde zum Versuchskaninchen einer neuen Schulstruktur. Nach der 8. Klasse gab es plötzlich Kursunterricht mit wechselnden Mitschülerinnen und Mitschülern, man konnte Fächer abwählen. Dabei konnten wir uns Zeit lassen, wir waren die ersten Abiturientinnen und Abiturienten, die dreizehn Jahre büffeln durften. Der Vorteil am Ende: An den Universitäten fehlte ein kompletter Jahrgang und für all diejenigen, die wollten, gab es Studienplätze. Dass ich allerdings in Mathe ein halbes Jahr würfeln musste, um Wahrscheinlichkeitstheorien zu verstehen, empfinde ich noch heute als verlorene Lebenszeit.«

Zwischen Brandenburg und Bayern liegen Welten. Bildungswelten. An den beiden jungen Frauen ist das nicht unbedingt festzumachen. Sie sind etwas geworden. Die eine, Diana Golze, Sozialpädagogin. Die andere, Nicole Gohlke, Kommunikationswissenschaftlerin. Sie lernten leicht und gern. Aber unter jeweils anderen Bedingungen.


Schule in Ost und West


Nicole Gohlke wohnte mit den Eltern in München, in einem Mietshaus, dritter Stock, drei Zimmer, der Hof als Spielplatz. Ihre Straße war so eine Art Stadtteilgrenze. Nur einen Steinwurf weiter weg begann bereits das wohlhabende Viertel. Villen mit großen Gärten ringsherum. Die Grundschule der damals Siebenjährigen lag da mitten drin. Kinder aus reichen Familien waren ihre Mitschüler. »Es gab außer mir vielleicht noch zwei, drei Kinder aus ganz normalen Familien und vier Heimkinder«, erinnert sich Nicole Gohlke. Alle in der Klasse hatten diesen Druck, du musst das schaffen. Diesen Sprung nach der
4. Klasse auf die höhere Schule. Das Schulmädchen Nicole hat ihn gemeistert. Die anderen ebenso wenig betuchten Kinder haben den Sprung nicht geschafft. Sie wurden aussortiert, im Alter von neun und zehn Jahren.


Anders bei Diana Golze. Sie war in einer Gemeinschaft mit anderen Kindern schon, als sie gerade mal laufen gelernt hatte. Kindergarten, Grundschule, danach weiteres gemeinsames Lernen bis zum Ende der 8. Klasse. Und gemeinsam lernen, das war wörtlich zu nehmen, erzählt sie. Wer nicht so fix und helle war, dem halfen die besseren Schüler. Lernpatenschaften nannte man das. Diana Golze kann sich bis heute an die Namen der Schüler erinnern, mit denen sie übte. Egal, ob in Deutsch oder Naturwissenschaften. Das war etwas anderes als der kommerzielle Nachhilfeunterricht heute. »Es hat nichts gekostet, wir haben uns gegenseitig zu Hause besucht, es sind Freundschaften entstanden, wir haben Feste gefeiert.« Schule war für sie viel mehr als nur klassische Bildungsvermittlung: ein sozialer Ort, an dem man Rücksicht, Solidarität, Zuhören, Respekt lernte.


Nicole Gohlke erzählt auch von Geburtstagsfesten. Sie schmunzelt dabei. Es waren vielfach nur Fast-Feiern. Mitschülerinnen hatten sie eingeladen. Denn die Kinder untereinander waren zunächst nicht das Problem. Aber die Eltern. Über sie wurde Nicole wieder ausgeladen. Sie passte nicht rein in die feine Gesellschaft, sie hatte die falsche Herkunft.


Ein gemeinsames Ziel


Heute sind beide Frauen 35 Jahre alt und machen Politik. Bildungspolitik. Nicole Gohlke arbeitet seit einem Jahr in der Fraktion DIE LINKE, deren hochschulpolitische Sprecherin sie ist. Und Diana Golze, Mitglied des Bundestages seit dem Jahr 2005, macht sich einen Namen als Sprecherin für Kinder- und Jugendpolitik. Ihre unterschiedlichen Erfahrungen, einmal West, einmal Ost, sind eine gute Basis für das gemeinsame Ziel einer anderen Schule.


Wer gleiche Chancen auf Bildung will, muss auch frühe Schritte dahin ermöglichen. Im Kindergarten. »Das Recht darauf gehört jedem Kind, egal, wer und was die Eltern sind. Nur so gibt es auch wirklich gleiche Ausgangsbedingungen für den Schulstart«, sagt Diana Golze. Auch müsse das frühe Aussortieren aufhören. Kein Abstempeln der Kinder im Alter von maximal zehn Jahren. Ende der 4. Klasse haben viele Kinder bereits das erste Mal verloren. Der Weg in die Hauptschule, kein oder ein schlechter Abschluss, danach keine Lehre, keine Perspektive, dafür Aussicht auf Hartz IV – das ist längst gelebte und ungute Realität. »Kein Land kann und sollte sich das leisten«, meint Nicole Gohlke. Zumal es viele Spätentwickler gibt, die erst mit oder nach der 8. Klasse richtig loslegen und die der so dünn besiedelte Facharbeitermarkt dringend brauchen könnte.


Gemeinschaftsschulen, Ganztagsbetreuung, frühzeitige Hilfen für Kinder, deren Eltern von Sozialtransfers abhängig und möglicherweise mit Erziehungsaufgaben überfordert sind – das ist der Bildungsweg, der eingeschlagen werden muss. Bundesweit, mit vergleichbaren Lehrplänen, die dann immer noch auf konkrete Situationen und Lebenslagen modifiziert werden können. Ein längeres gemeinsames Lernen unter einem Dach, ringsherum in Europa ist das längst Alltag: von Finnland über Schweden und Dänemark bis hin nach Frankreich, Spanien und Portugal. Nur die Bundesrepublik hält am dreigliedrigen Schulsystem fest. Jedenfalls in den konservativ regierten Bundesländern.


Das ist kurz gesehen. Denn wer will, dass die Rentenkassen von der jüngeren Generation gut gefüllt werden, muss auch dafür sorgen, dass möglichst viele junge Menschen einen möglichst guten Schulabschluss erreichen und am Ende im Beruf und auf eigenen Beinen stehen. Es gibt übrigens keine einzige Studie, die belegt, dass längeres gemeinsames Lernen gute Schüler benachteiligt oder im Lernen hindert.

Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE



 

Diana Golze ist kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE