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Sag mir, wo die Frauen sind

Von Ulla Jelpke, erschienen in Lotta, Ausgabe 11,

Das UNO-Flüchtlingswerk schätzt, von den über 60 Millionen Flüchtlingen weltweit ist jede zweite eine Frau. Doch nur ein Bruchteil von ihnen erreicht Europa. Wo sind die anderen?

Rund die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit ist weiblich. In Europa kommen die meisten von ihnen aber gar nicht an. Es sind vor allem Männer und halbwüchsige Jungen, die in der Europäischen Union einen Asylantrag stellen. Während im Jahr 2014 laut Statistischem Amt der Europäischen Union bei den unter 14-jährigen Asylsuchenden rund die Hälfte männlich war, lag der Anteil bei den 14- bis 17-Jährigen und den 18- bis 34-Jährigen mit 75 Prozent schon deutlich höher.

Von den unbegleiteten Minderjährigen waren sogar rund 80 Prozent der Asylsuchenden männlich. Stärker vertreten sind asylsuchende Frauen nur in der Gruppe der über 65-Jährigen. Aber selbst dort machten sie im letzten Jahr weniger als ein Prozent aller Asylanträge aus.

 

Was ist für weibliche Flüchtlinge anders? Zunächst einmal fliehen sie nicht nur vor Krieg, politischer Verfolgung oder rassistischer Diskriminierung, sie fliehen auch vor sexueller Ausbeutung und geschlechtsspezifischer Gewalt oder Unterdrückung. Überwiegend aus sehr patriarchal geprägten Kulturkreisen stammend, sind sie in ihren Herkunftsländern stark in die sozialen Strukturen eingebunden. Es kostet sie viel Mut, sich daraus zu lösen. Ihre Kinder müssen sie entweder zurücklassen oder mit ihnen zusammen fliehen, wissend, dass sie allein reisend mit Kindern in vielen Situationen schutzlos sind und leicht zu Opfern sexueller Übergriffe werden können. Häufig dürfen sie ohne Ehemann ja nicht einmal Pässe für sich oder ihre Kinder beantragen. Ohne eigenes Einkommen und mit nur spärlichen Ersparnissen fehlt es den Frauen in der Regel auch an finanziellen Mitteln, um Schleuser, Unterkünfte oder Transportmittel zu bezahlen und sich auf der Flucht zu versorgen. Die Gemeinden und Familien sammeln meistens nur Geld für die Flucht junger Männer. Von diesen erhofft man sich, dass sie nach Ankunft in Europa Geld nach Hause schicken. Einmal auf der Flucht, bleiben Frauen darum als Binnenflüchtlinge entweder in Lagern nahe ihrer Herkunftsregion oder laufen Gefahr, sich als Opfer von Menschenhandel die Flucht mit ihrem Körper erkaufen zu müssen. Viele Frauen haben weder schwimmen noch eine Fremdsprache gelernt. Allein auf sich gestellt müssen sie sich und ihre Kinder monate- oder jahrelang in behelfsmäßigen Lagern und auf illegalen Fluchtrouten durchbringen. Eine Beschränkung des Familiennachzugs, wie er von den Unionsparteien gerade für syrische Flüchtlinge diskutiert wird, würde diesen Frauen und Kindern die einzige Möglichkeit nehmen, legal nach Europa zu gelangen. Für sie bliebe der illegale und lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer. Faktisch funktioniert der Familiennachzug bereits jetzt schon nicht. In der Türkei oder im Libanon müssen Familien monatelang, teilweise über ein Jahr lang auf Termine zur ersten Vorsprache im Visumverfahren warten. Schaffen Frauen und Kinder es bis nach Europa, sehen sie sich häufig weiteren Belastungen ausgesetzt. In den Unterkünften gibt es kaum Privatsphäre und eine nur unzureichende Betreuung für Opfer körperlicher oder seelischer Gewalt. Die Lagersind darüber hinaus –in Bezug auf Bewohner und Personal – meist männerdominiert. Alleinstehende Frauen laufen Gefahr, erneut Opfer von Übergriffen zu werden. Viele geflohene Frauen sind es aus ihrem Kulturkreis heraus nicht gewohnt, aktiv Hilfe einzufordern, sie leiden im Stillen. An erster Stelle sollte daher die sorgfältige Bedürfnisanalyse weiblicher Flüchtlingen stehen. Vor Ort muss es besonders um den Schutz der Privatsphäre sowie um sensible Beratungs- und Integrationsstrukturen gehen. Sinnvolle Ansätze wären auch Unterbringungsmöglichkeiten nur für Frauen und Kinder und die Durchsetzung von Gewaltschutz- und entsprechenden Kontrollmechanismen in den Einrichtungen. Nicht vergessen werden dürfen die Frauen, die noch in den Herkunftsländern oder unterwegs auf der Flucht sind. Hier gilt: Keine Einschränkung des Familiennachzugs, legale Einreisewege und humanitäre Hilfe für die vielen Frauen und Kinder, die als Binnenflüchtlinge im Elend leben und weder vor noch zurück können.

 

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

 

Infokasten

Flucht von Frauen ist anders

°50 Prozent der Flüchtlinge weltweit sind Frauen

°Laut Terre des Femmes sind die Mehrheit der Menschen, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen vertrieben werden, Frauen

°Frauen bleiben hinter den Männern zurück: entweder in den Krisen regionen selbst oder in Flüchtlingslagern angrenzender Länder

°Die meisten Frauen harren in sogenannten Informal Camps aus: in  Abbruchhäusern oder selbstgezimmerten Hütten in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Kenia, Pakistan

 

GRÜNDE, WARUM FRAUEN ZURÜCKBLEIBEN:

°Armut. 70 Prozent der unter dem Existenzminimum lebenden Weltbevölkerung sind Frauen

°An Normen und patriarchale Strukturen gebunden, ist es für viele Frauen undenkbar, ohne Begleitung des Ehemannes oder Bruders loszuziehen

°Frauen tragen Verantwortung für die Kinder und für die Alten. Das schränkt ihre Mobilität ein

°Unterschätzt wird die sexualisierte Gewalt. Frauen fliehen vor Genitalverstümmlung, Zwangsheirat, Ehrenmord. Diese frauenspezifischen Fluchtgründe sind nicht in den Asylgesetzen verankert