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Oskar Lafontaine: Was gescheitert ist, lässt sich nicht retten

erschienen in Clara, Ausgabe 2,

Der Fraktionsvorsitzende im Gespräch mit der Wochenzeitung ›Freitag‹ über die Europäische Verfassung, den Kellner in Paris und die Erleuchteten in Berlin

Warum legt sich aus Ihrer Sicht die Kanzlerin so sehr darauf fest, als EU-Ratspräsidentin unbedingt den komatösen Verfassungsprozess zu reanimieren?

Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht erklären, aber ich beurteile den Zustand des Verfassungsprozesses genauso wie Sie. Es wird sehr schwer sein, die europäischen Staaten dafür zu gewinnen, eine solche Verfassung zu verabschieden. Was auch immer passiert, die Linke fordert, dass durch Volksabstimmungen in allen EU-Staaten über eine EU-Verfassung entschieden wird, weil es seit Jahren der Webfehler der europäischen Entwicklung ist - man denke an die Verträge von Maastricht, die Einführung des Euro oder die Ost-erweiterung -, ausnahmslos über die Köpfe der Bevölkerung hinweg zu entscheiden. Wer so handelt, der sorgt dafür, dass die Europäische Union zu einer undemokratischen Bürokratie verkommt.

Die Bundesregierung hat neben der Verfassung die Vollendung des europäischen Binnenmarktes oder - gerade heftig debattiert - die Energiesicherheit zu Schwerpunkten Ihrer Ratspräsidentschaft erklärt. Wären Sie in vergleichbarer Verantwortung, welche Prioritäten würden Sie setzen?

Die Linke würde sich vor allem dafür einsetzen, den europäischen Markt Regeln zu unterwerfen, die besonders für den so genannten Arbeitsmarkt gelten. Ein schreckliches Wort, weil es suggeriert, es handelt sich um Waren, die über diesen Markt vermittelt werden, und nicht um Menschen. Die Linke würde sich zudem für Mindestlöhne in allen EU-Staaten einsetzen, weil die unverzichtbar sind, um den europäischen Binnenmarkt so zu regeln, dass die Europäer nicht permanenter sozialer Verunsicherung ausgesetzt sind.

Und energiepolitisch?

In dieser Hinsicht muss man sehr aufmerksam sein, denn derzeit gewinnt in Europa die amerikanische Auffassung merklich an Boden, wonach Energieversorgung gegebenenfalls auch militärisch zu sichern sei. Das hört man in Deutschland besonders aus der CDU. Ein gefährlicher Irrweg.

Sie meinen den erweiterten Sicherheitsbegriff aus dem Weißbuch von Verteidigungsminister Jung.

Ich meine eine fundamentale Veränderung der deutschen Außenpolitik, die darin besteht, die Verfassung zu missachten und die Bundeswehr über ihren Verteidigungsauftrag hinaus exzessiv einzusetzen. Wir haben erlebt, wie das Völkerrecht beim Jugoslawien-Krieg, beim Afghanistan-Krieg gebrochen wurde. Auch beim Irak-Krieg, an dem wir gleichfalls beteiligt sind, wie es das Bundesverwaltungsgericht festgestellt hat, weil wir in Deutschland Flugplätze für die US-Armee bereitstellen und die Bundesmarine amerikanischen Kampfschiffen während der Kampfhandlungen im Irak Begleitschutz gewährt hat. Diese Fehl-entwicklungen der deutschen Außenpolitik würden verschärft, wollte man jetzt auch noch die Energiequellen militärisch sichern. Ein solches Vorgehen haben Willy Brandt oder Helmut Schmidt stets abgelehnt.

Sie sagen in Ihrem EU-Memorandum, mit den Referenden in Frankreich und den Niederlanden sei der Verfassungsvertrag gescheitert. Man könnte entgegnen, immerhin ist er in 17 Staaten bereits ratifiziert worden. Außerdem dürfte es im Juni einen neuen französischen Präsidenten oder eine Präsidentin geben, das könnte einiges bewegen. Erhalten Sie Ihr Urteil dennoch aufrecht?

Ja, aber aus anderen Gründen. Das Entscheidende ist doch - eine EU-Verfassung muss von der Bevölkerung gewollt sein, sonst ist es keine Verfassung, sondern ein oktroyiertes Regelwerk. Und die Bevölkerung in Europa ist mit der neoliberalen Politik, wie sie diese Verfassung festschreibt, eindeutig nicht einverstanden. Diese Politik hat in der EU zu höherer Arbeitslosigkeit und zu größerer Armut geführt. Außerdem verstehen wir als Linke Demokratie nicht als formalen Akt, sondern als eine Regierungsform, bei der die Interessen der Bevölkerungsmehrheit nicht missachtet werden, wie das bei den Beschlüssen der EU-Exekutive - ob nun im Europäischen Rat oder der EU-Kommission - permanent der Fall ist. Wir sehen doch in Deutschland, wie der Bundestag, der sich als Versammlung von Erleuchteten empfindet, immer wieder gegen die Mehrheit des Volkes abstimmt. Denken Sie an die Rente, die Mehrwertsteuer und an die Gesundheitsreform. Nehmen Sie die ausufernden Auslandseinsätze der Bundeswehr, die dem Willen der Mehrheit widersprechen. Es wird immer wieder im Parlament das Gegenteil von dem beschlossen, was die Mehrheit außerhalb des Parlaments für richtig hält.

Braucht Europa überhaupt eine Verfassung? Reicht nicht eine Charta der Grundrechte?

Wenn man die europäische Einigung fortsetzen will und an der Vision von den Vereinigten Staaten in Europa festhält, wie ich das tue, dann ist eine EU-Verfassung schon ein Fortschritt. Nur darf der Verfassungstext kein solcher Torso sein wie das vorliegende Papier. Es reicht ein kurzer Text, mit dem sich die EU-Staaten auf Prinzipien Ihres Zusammenwirkens verständigen und nicht jedes Detail regeln. Aber zu diesen Grundsätzen gehören eben die Sozialstaatlichkeit und die Verpflichtung des Eigentums gegenüber dem Gemeinwohl. Solche Bestimmungen, die den Marktradikalismus einschränken, fehlen bisher völlig.

Aber leisten Sie nicht einer verbreiteten EU-Skepsis Vorschub, wenn Sie prinzipiell an einer EU-Verfassung festhalten? Wie die auch immer aussehen mag, sie erweckt beim Bürger zwangsläufig den Eindruck: Jetzt gibt es noch mehr Fremdsteuerung, noch mehr Undurchschaubarkeit und so weiter.

Weil das so ist, kann nur die gründliche Debatte eines einfachen Textes diesen Eindruck abschwächen. Es war für mich ein besonderes Erlebnis, als ich mich in Frankreich vor dem dortigen Verfassungsreferendum im Mai 2005 an der Non-Kampagne beteiligt und dabei erfahren habe, wie genau die Franzosen den Verfassungstext kannten. Selbst Taxifahrer und Kellner haben mich in Paris daraufhin angesprochen, das würde ich mir auch für Deutschland wünschen.

Warum plädieren Sie für eine wirtschaftspolitische Neutralität der Verfassung und nicht dafür, die soziale Marktwirtschaft verfassungsrechtlich zu verankern?

Wir sagen an der betreffenden Stelle unseres Memorandums zugleich, die Verfassung muss gegenüber einer gemischt wirtschaftlichen Ordnung mit einem bedeutenden öffentlichen Sektor offen sein …

… aber der Begriff von der wirtschaftspolitischen Neutralität fällt ins Auge.

Diese Formulierung wurde deshalb verwendet, weil bisher der Eindruck erweckt wurde, die neoliberale Ordnung sei alternativlos und verdiene es, in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben zu werden. Es kann überhaupt kein Zweifel bestehen, für wie existenziell wir einen starken öffentlichen Sektor halten, der selbstverständlich Ausdruck eines bestimmten Wirtschafts- und Staatsverständnisses ist. Hätten wir in Deutschland einen öffentlichen Sektor, der so stark wäre wie in Dänemark oder in Schweden, dann hätten wir rein rechnerisch keine Arbeitslosigkeit. Aber diese einfachen Zusammenhänge sind leider in der deutschen Diskussion weitgehend unbekannt.

Bedingen die sozialen Standards, um die es Ihnen geht, nicht auch ein höheres Maß an makroökonomischer Steuerung, etwa durch die Europäische Zentralbank?

Zunächst einmal: Die Linke ist als einzige politische Kraft der Auffassung, dass die Verfassung der Europäischen Zentralbank EZB im Sinne einer klassischen Wirtschaftspolitik geändert werden muss. Um diesen Gedanken auch Leuten nahe zu bringen, die linker Politik skeptisch gegenüberstehen, verweisen wir immer auf die amerikanische Zentralbank, die nicht nur für die Stabilität der Währung zu sorgen hat, sondern ebenso verpflichtet ist, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Allein das pure Abschreiben der Verfassung der US-Zentralbank wäre schon ein großer Fortschritt für die Europäische Zentralbank.

Inwiefern?

Weil die EZB ihre Politik dann nicht mehr an einem völlig überholten Regelwerk ausrichten müsste, wie es der Vertrag von Maastricht vorschreibt. Nehmen Sie das vergangene Jahr: Hat eine Bundesregierung den Mut, einmal nicht zu kürzen, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, und wird sie außerdem von der Weltkonjunktur unterstützt, bewahrheitet sich die alte linke Formel: Nur Wachstum saniert die Haushalte. Deshalb muss der so genannte EU-Stabilitätspakt, der irreführender Weise auch noch Wachstumspakt genannt wird, geändert werden. Gleichzeitig aber brauchen wir auf europäischer Ebene eine Harmonisierung der Steuerpolitik. Im Gegensatz zu den konservativen Parteien wollen wir das nicht nur bei den indirekten, sondern - was viel wichtiger ist - auch bei den direkten Steuern wie der Einkommens-, der Vermögens- oder der Zinsertragssteuer. Solange hier nicht harmonisiert wird, solange beispielsweise in Österreich keine Vermögenssteuer erhoben wird, werden alle Neoliberalen in Deutschland sagen, wir dürfen auch keine einführen, weil sonst unsere Reichen abwandern.

Der vorliegende EU-Verfassungstext sieht unter anderem einen europäischen Außenminister vor. Wäre das nicht - auch mit Blick auf das Verhältnis zu den USA - einen Fortschritt?

Auf jeden Fall, aber das setzt voraus, dass die Europäer zu einer gemeinsamen Außenpolitik fähig sind. Ansonsten hat ein solcher Außenminister keine Funktion.

Von ihm könnte ein gewisser Zwang zur Einigung ausgehen.

Sehen Sie sich doch den EU-Außenbeauftragten Solana an. Hat der so etwas wie eine gemeinsame Irak-Politik der EU bewirkt? Wenn man einen europäischen Außenminister will, muss zuerst die Frage beantwortet sein: Wie soll eine europäische Außenpolitik überhaupt aussehen? Die Linke setzt sich für eine völlige Neuorientierung ein, die einem Grundprinzip folgt: Gleiches Recht für alle. Das heißt, das Völkerrecht muss für alles gelten, der Atomwaffensperrvertrag muss für alle gelten - der große Fehler der Schröder-Fischer-Regierung bestand doch darin, den ständigen Bruch des Völkerrechts zur Grundlage einer vermeintlich neuen Rolle Deutschlands in der Welt machen zu wollen.

Sie regen den Aufbau eigener europäischer Streitkräfte an. Sollten die bündnispolitisch neutral sein?

Wir wollen eine Außenpolitik, die eine Sicherheitspartnerschaft mit anderen ermöglicht, natürlich auch mit den USA, und bei der klar ist: Die EU darf sich niemals in eine US-Politik einbinden lassen, die der Eroberung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten dient, wie das manchmal aus den gedankenlosen Statements so genannter außenpolitischer Experten anderer Parteien heraus zu hören ist.

Sicherheitspartnerschaft ohne die NATO?

Ja, denn die NATO in ihrer früheren Form gibt es nicht mehr. Es ist unter maßgeblicher deutscher Beteiligung gelungen, die westliche Allianz in ein Interventionsbündnis umzufunktionieren, Stichwort: die törichte Struck-Formel, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Eine der absurdesten Aussagen, die ich je von einem deutschen Politiker gehört habe. Die Gedankenfaulheit führt dazu, dass man nie auf die Idee kommt, den Satz einfach umzudrehen und sich vorzustellen, dass ein Afghane sagt, mein Land und die Ehre meines Clans werden auch in den Alpen verteidigt.

Warum sagen Sie in Ihrem Memorandum nichts zu künftigen Erweiterungsoptionen der EU?

Weil wir der Meinung sind, dass die jüngsten Erweiterungen zunächst einmal verarbeitet werden müssen. Wir sagen das nicht nur, weil sie in undemokratischer Weise über die Köpfe der Bevölkerung vollzogen wurden, sondern auch als Instrument zum Lohn- und Sozialdumping, auch Steuerdumping, missbraucht werden. Deswegen sind ja die Wirtschaftsverbände so vehement für die Osterweiterung eingetreten. Solange das so ist, kann sich eine Linke nicht über Erweiterung äußern, sondern muss darüber reden, wie Fehlentwicklungen korrigiert werden können.

Wie denken Sie über den Aspiranten Türkei?

Genauso. Früher hieß es immer, wir brauchen eine Vertiefung und Erweiterung der EU, übrig geblieben ist eine Erweiterung mit Sozialdumping und sonst nichts.

Es gab vor den Referenden in Frankreich und den Niederlanden PDS-Politiker, die sich klar für den Verfassungsvertrag aussprachen. Auf wie viel Gegenwind stoßen Sie derzeit mit Ihren EU-Positionen in der Linkspartei?

Ich glaube, dass die Prinzipien, die Gregor Gysi und ich im EU-Memorandum festgeschrieben haben und die klar auf eine sozialstaatliche Regulierung der Marktwirtschaften zielen, völlig unstrittig sind, sowohl in der Linkspartei als auch in der WASG. Es mag den einen oder anderen geben, der die geringen Fortschritte des vorliegenden Verfassungsvertrages, etwa bei der Charta der Grundrechte, hoch bewertet. Nach meinem Eindruck findet aber in beiden Parteien ein neoliberales Europa keine Zustimmung.

Seinerzeit meinten die Verfassungsbefürworter in der PDS, dass mit der Charta der Grundrechte erstmals in einem EU-Dokument die Unteilbarkeit der sozialen Grundrechte und der bürgerlichen Freiheitsrechte zum Ausdruck kam.

Ja, aber das haben wir nun in vielen Verfassungen, dass dort schöne Worte stehen, die leider nicht mit Leben erfüllt sind. Wenn wir die Praxis der EU nehmen und uns dann die Artikel im vorliegenden EU-Verfassungstext ins Gedächtnis rufen, in denen es heißt, die EU sei eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb - dann sind die edlen Worte im Vorspann der Verfassung ad absurdum geführt. Für die Bürger ist das ohnehin zweitrangig. Sie wollen wissen, ob es mit dem Lohn- und Sozialdumping weitergeht oder nicht.

Das Gespräch führte Lutz Herden.