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Niedriglohnland Deutschland

erschienen in Klar, Ausgabe 41,

Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich in Deutschland der Anteil von Geringfügig-, Teilzeit- und befristet Beschäftigten, Leiharbeitern und Soloselbstständigen in allen Branchen verdoppelt. Mit erheblichen Folgen. Beispiel Callcenter Agents. Sie gehen in der Regel am Monatsende mit etwa 1.300 Euro auf die Hand nach Hause. Der Lohn fürs Telefonieren in Vollzeit und im Schichtdienst. Geld, das reichen soll für Miete, Strom, Telefon, Lebensmittel und andere Alltagsdinge. Beispiel Security. Private Sicherheitsfirmen boomen, seitdem bundesweit und über Jahre hinweg die Polizei personell ausgedünnt wurde. Erhalten die einen eine langjährige Ausbildung und Tariflöhne, bekommen private Wachmänner einen Fünf-Tage-Crash-Kurs über die Industrie- und Handelskammer und in den Security-Firmen häufig einen Stundenlohn unter 10 Euro. Beispiel Airport-Bodendienstleister. Auf den Flughäfen Berlin Tegel und Schönefeld arbeiten etwa 2.000 Frauen und Männer im Check-in, bei der Gepäckverladung, bei der Sicherheitsüberprüfung. Der Einstiegslohn: 10 Euro die Stunde, unregelmäßiger Schichtdienst, auch am Wochenende, eine hohe Teilzeitquote. Für die Flughäfen boomt das Geschäft, beim Bodendienstpersonal kommt davon nichts an. Im Gegenteil: Sie müssen viel mehr Passagiere und Flugzeuge abfertigen. Ein Beschäftigter: »Die Kollegen sind am Limit, es geht nicht mehr.« In der Urabstimmung für einen unbefristeten Streik stimmten 98,6 Prozent dafür. Ihre Arbeitsniederlegung hat sich gelohnt. Die Stundenlöhne werden schrittweise um bis zu 1,90 Euro angehoben. Das ist gut so, denn ihr Job ist unsere Garantie für sicheres Fliegen, eine Sicherheit, die wir alle verlässlich brauchen. 

Zu den miesen Jobs in Deutschland zählen auch der derzeit 7,3 Millionen geringfügig Beschäftigten. Rund 60 Prozent von ihnen haben ausschließlich einen Minijob. Die anderen 40 Prozent verrichten ihn neben der Vollzeitarbeit. Eine aktuelle Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) belegt, dass fast die Hälfte der hauptberuflichen Minijobber selbst nach Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 nicht die festgelegten 8,50 Euro bekamen. Auch der verbriefte Anspruch auf Kranken- und Urlaubsgeld wird häufig nicht gewährt. Diese Arbeitsmodelle mit geringster Bezahlung finden sich häufig im Handel, im Gaststättengewerbe und in Friseursalons. Branchen, in denen besonders Frauen beschäftigt sind. 

Was unter »Guter Arbeit« verstanden werden sollte, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seinen Leitlinien festgeschrieben: »Faires Einkommen, berufliche und soziale Sicherheit, ein Arbeits- und Gesundheitsschutz, der hilft, gesund das Rentenalter zu erreichen.« Der Begriff »Gute Arbeit« geht übrigens auf die englische Bezeichnung »decent work« zurück. Wörtlich bedeutet das so viel wie »menschenwürdige Arbeit«. Menschenwürdig wiederum hieße, einen Lohn zu bekommen, von dem man leben kann. Die schon erwähnte Hans-Böckler-Stiftung schreibt in ihrem Mindestlohnbericht im Februar 2017, dass die Mindestlöhne weltweit im Jahr 2016 gestiegen sind. Und doch reicht der Mindestlohn vielfach und vielerorts kaum zum Mindesten. In Deutschland kommen Frauen und Männer mit einem Mindestlohnjob gerade so über die Runden – und zwar genau so lange, bis sie Opfer der nächste Ungerechtigkeit werden: der Altersarmut.