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»Nichts mehr über uns ohne uns«

erschienen in Clara, Ausgabe 40,

Mehr Rechte, mehr Teilhabe, mehr Selbstbestimmung – das sollte das Bundesteilhabegesetz behinderten Menschen garantieren. Jetzt gibt es einen Entwurf der Bundesregierung und sehr viel Ernüchterung.

Sigrid Arnade ist richtig sauer. 369 vollgeschriebene Seiten und so gut wie nichts von dem, was Menschen mit Behinderung und andere Experten zuvor für das geplante Teilhabegesetz eingebracht hatten, sei eingeflossen. »Lieber kein Gesetz als dieses schlechte«, sagt sie. Dabei war die Hoffnung groß. Sigrid Arnade – seit 1986 ist sie mit dem Rollstuhl unterwegs, promovierte Tierärztin und Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – saß mit am Runden Tisch. Sie war eine gleichberechtigte Stimme neben anderen wie Sozialverbände, Städtetag, Renten- und Krankenversicherung, Staatssekretäre, Vertreter aus dem Bundeskanzleramt. Was brauchen Menschen mit Behinderung? Wodurch werden sie in ihrem Alltag durch andere behindert? Wie zeitgemäß ist der alte Fürsorgegedanke überhaupt noch? Ein »aufwendiges Verfahren«, seit dem Jahr 2014 über Monate hinweg, erzählt Sigrid Arnade, und jetzt: ein »Spargesetz«.

»Die Zeiten des Einlullens sind vorbei«, meint Raúl Krauthausen. Er ist der »Mann mit der Mütze«. Beruf: Aktivist. Mitbegründer des Vereins Sozialhelden. Unternehmer, Arbeitgeber. Einer, der das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam. Sigrid Arnade übrigens auch. Sogar gleich zweimal. Beide wurden vom Staat geadelt, im Alltag jedoch schreibt genau dieser ihnen vor, was sie dürfen und was nicht. Und das nur aufgrund ihrer Behinderung. In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit Behinderung. Bei einer Einwohnerzahl von 80 Millionen bedeutet das, einer von acht Menschen ist behindert, braucht Unterstützung, Begleitung, Betreuung im Alltag.

In der Öffentlichkeit weiß kaum jemand, dass Menschen, die auf staatlich finanzierte Assistenz angewiesen sind, vorgeschrieben bekommen, ob sie im Heim oder in den eigenen vier Wänden leben müssen oder dürfen. Der Kostenfaktor entscheidet. Sparen fürs Alter? Mehr als 2 600 Euro Rücklage sind nicht erlaubt, lebenslänglich. Behinderung und Zusammensein in einer Partnerschaft zieht nach sich, dass die oder der Liebste finanziell für den behinderten Partner in Haftung genommen wird. Ein gerechter Lohn auf dem Arbeitsmarkt? Mehr als monatlich 798 Euro sind nicht gestattet. Jeder Euro darüber wird zu 40 bis 80 Prozent von Amts wegen einkassiert. Einen Bausparvertrag abschließen oder ein Erbe antreten? Fehlanzeige. Hinzu kommt so eine »Art Generalverdacht«, sagt Raúl Krauthausen. Ständig würde überprüft, ob der »Betreuungs- und Pflegebedarf noch korrekt« sei, Kontoauszüge müssen regelmäßig eingeschickt werden, und zwar ungeschwärzt. »Dabei belegen Studien, dass der Aufwand fürs Kontrollieren mehr Kosten verursacht als einspart.«

Raúl Krauthausen hat es satt, den »Grüßaugust« zu spielen. Seit seiner Geburt lebt er mit seinen »Glasknochen«, hörte irgendwann auf, die vielen und schmerzhaften Knochenbrüche zu zählen. Schmunzelt, wenn kleine Kinder »Baby-Opa« zu ihm sagen. Diese Selbstverständlichkeit, Direktheit wünscht und will er auch in der Erwachsenenwelt. Allein das Wort "Heilerziehungspflege" bringt ihn auf die Palme. »Ich will weder geheilt noch erzogen oder gepflegt werden«, sagt er. Darum geht er in Talkshows, zu Fachdiskussionen, macht Workshops in Sozialeinrichtungen. Umdenken ist das Zauberwort. Menschen mit Behinderungen sind keine »Ach-so-armen-Menschen«. Sie wollen arbeiten, nicht nur in geschützten Werkstätten, sie wollen ungehindert in Kinos und Kneipen, in Theater und öffentliche Verkehrsmittel. Sie zahlen täglich Mehrwertsteuer wie andere auch. Sind sie in Lohn und Brot, geben sie Sozialabgaben ab wie jeder und jede andere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin auch und sie schaffen auf jeden Fall Arbeitsplätze: für Fahrdienste, Krankengymnastik, Pflegeassistenten, Förderschulen, barrierefreien Tourismus.

Anfang Mai, am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, rollten Sigrid Arnade und Raúl Krauthausen vor das Brandenburger Tor. Sie sprachen vor etwa 5000 Menschen aus ganz Deutschland – vor Blinden, Gehörlosen, Frauen und Männern in Rollstühlen. Die Demonstration war laut, bunt, schrill, fröhlich und wütend. Wütend in der Ablehnung des geplanten Teilhabegesetzes. Denn Wichtiges bleibt unerfüllt. Leben in den eigenen vier Wänden? Nur wenn es »kostengünstiger« ist. Sparen? Ja, ein bisschen mehr. Ein Elternerbe antreten – weiterhin unmöglich. Gleichstellung sieht anders aus.

Zur Kundgebung waren übrigens auch die jeweiligen behindertenpolitischen Sprecher der Fraktionen im Bundestag eingeladen. Die CDU/CSU fehlte, schickte nicht einmal eine Vertretung. Die SPD wurde ausgepfiffen. Denn das geplante Bundesteilhabegesetz kommt aus einem sozialdemokratisch geführten Ministerium, aus dem Haus der Sozial- und Arbeitsministerin Andrea Nahles.

Gisela Zimmer