Zum Hauptinhalt springen

Mit Energie in die Zukunft

erschienen in Clara, Ausgabe 46,

»Gott hat die Juden 40 Jahre lang durch die Wüste laufen lassen, nur um sie an den einzigen Flecken im Nahen Osten zu bringen, an dem es kein Erdöl gibt«, lästert der deutsche Künstler Shahak Shapira in der Hamburger Markthalle über sein Geburtsland Israel und das Publikum johlt. Aus der landwirtschaftlichen Wüstenenklave von einst ist längst ein Hightechland geworden. In Aschalim, 40 Kilometer südlich von der bekannten Universitätsstadt Be’er Schewa inmitten der unwirtlichen Wüste Negev, haben israelische Ingenieure eine Antwort auf die göttliche Vorsehung gefunden.

Nach zehnjähriger Bauzeit geht hier im September das größte Solarkraftwerk der Welt ans Netz. Auf einem Areal von 400 Hektar erstreckt sich ein Meer aus 55.000 Parabolspiegeln. Sie fangen die Sonnenstrahlen aus jedem Winkel ein und leiten die Hitze in ein 203 Kilometer langes Netz aus Stahlrohren weiter. Durch die Sonnenstrahlung wird in den Rohren thermisches Öl auf 390 Grad Celsius erhitzt und damit Wasser verdampft. Dieser Dampf treibt Turbinen in Stromgeneratoren an, die künftig 150.000 Haushalte mit Elektrizität versorgen werden. Als David Ben-Gurion 1948 den israelischen Staat ausrief, hätte sich wohl niemand träumen lassen, wie erfolgreich und entschlossen sich die junge Nation den Landstrich zwischen Mittelmeer und dem Fluss Jordan heute jeden Tag ein Stück lebenswerter macht.

Den 70. Jahrestag der Staatsgründung des jüdischen Staats nimmt Dietmar Bartsch zum Anlass für seine zweite Israelreise als Fraktionsvorsitzender. Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Stefan Liebich, begleitete ihn. Auf dem Programm standen Yad Vashem und die Knesset, aber auch Start-up-Unternehmen in Tel Aviv, der Gaza-Grenzübergang Kerem Schalom, die Kibbuzim Sufa und Kfar Asa sowie das Wohnhaus und das Grab von David Ben-Gurion. Vor zwei Jahren war das Land Ziel der ersten gemeinsamen Auslandsreise von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch an der Spitze der Linksfraktion. Ein politisches Signal, das auch in Jerusalem positiv aufgenommen wurde. Staatspräsident Reuven Rivlin empfing die beiden deutschen Oppositionsführer seinerzeit.

Im Mai 2018 ist die Welt aus den Fugen geraten, wie Dietmar Bartsch nicht müde wurde zu betonen. Gerade erst ist die Trump-Administration aus dem Atomvertrag mit dem Iran ausgestiegen und hat Israels Verbündete mit dem symbolischen Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem vor den Kopf gestoßen. Anfang des Monats ergoss sich Mahmud Abbas, der greise Führer der Palästinenser, in unsäglichen Tiraden, wonach nicht Antisemitismus, sondern soziales Verhalten der Juden – wie das Verleihen von Geld – den Holocaust ausgelöst habe. Und abermals versuchte der 82-Jährige seine These zu belegen, dass das jüdische Volk keine historischen Wurzeln im Heiligen Land habe.

Auch innenpolitisch steht Israel vor gigantischen Herausforderungen: Nur in sieben anderen Industriestaaten ist dem Gini-Index der Weltbank zufolge die Kluft zwischen Arm und Reich größer als in Israel. Bei Kinder- und Einkommensarmut belegt Israel demnach sogar den ersten Platz. Die Wohnungsnot ist seit Jahrzehnten anhaltend groß, astronomische Mieten lassen die Israelis verzweifeln. Dabei hat Israel eines der besten Gesundheitssysteme auf der Welt. Aber diesen Standard dauerhaft zu sichern, kostet eben auch viele Milliarden Schekel. Und dann ist da noch der durch Korruptionsvorwürfe schwer belastete Ministerpräsident Netanjahu, der versucht, von den Ermittlungen gegen sich mit immer schrilleren politischen Manövern abzulenken. All das hält Jahr für Jahr Zehntausende Juden aus aller Welt nicht davon ab, hierher einzuwandern.

Dietmar Bartsch führt zu all dem Gespräche mit Grassroot-Organisationen und mit der linken Opposition in der Knesset. Die große Hoffnungsträgerin der sozialdemokratischen Linken ist Tamar Zandberg. Die 42-Jährige hat erst im März den Vorsitz der Meretz-Partei übernommen. Meretz bedeutet übersetzt Energie, was das Naturell der sympathischen Gesprächspartnerin treffend beschreibt. Schon als Mitglied des Stadtparlaments von Tel Aviv machte Zandberg landesweit auf sich aufmerksam, als sie eine Initiative anstieß, öffentliche Verkehrsmittel am Schabbat, dem religiösen Ruhetag der Juden, zu erlauben.

Meretz zog bei der Wahl im Jahr 2015 mit fünf Abgeordneten als kleinste Fraktion in die Knesset ein. Insgesamt sind 120 Abgeordnete von 17 Parteien, die sich in 10 Fraktionen zusammengeschlossen haben, im israelischen Parlament vertreten. Mehrere Parteien haben gerade einmal zwei Abgeordnete. Das macht Regieren und Oppositionsarbeit gleichermaßen kompliziert. Dietmar Bartsch und Tamar Zandberg können beide ohnehin ein Lied davon singen, wie schwierig es für die politische Linke nicht nur in ihren beiden Ländern, sondern weltweit geworden ist. Die Parolen der Populisten am rechten Rand verfangen hier wie dort bei den Bürgern.

Tzipi Livni wäre es im Oktober 2008 beinahe gelungen, nach Golda Meir als zweite Frau an die Spitze der israelischen Regierung zu treten. Ihre Partei Kadima wurde bei der Parlamentswahl stärkste Kraft. Trotz einer raschen Einigung mit der sozialdemokratischen Arbeitspartei gelang es Livni nicht, innerhalb der vorgeschriebenen Frist von anderthalb Monaten weitere Partner für die notwendige Knesset-Mehrheit zu gewinnen. Kadima gewann zwar auch die Neuwahlen im Februar 2009, aber Likud-Chef Netanjahu fädelte eine rechte Regierungskoalition ein und zwang Livni in die Opposition. Sie und Dietmar Bartsch sprechen über Mitte-links-Bündnisse und darüber, wie Politik in Zeiten von Facebook und Twitter verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen kann.

Später sitzen Dietmar Bartsch und Stefan Liebich auf der Besuchertribüne der Knesset und verfolgen ihre vorherigen Gesprächspartner in einer lebhaften Debatte. Meretz hat beantragt, Flüchtlingen das Recht einzuräumen, ein Bankkonto zu eröffnen. Die Abstimmung erfolgt elektronisch und dauert zehn Sekunden. Die Regierungskoalition schmettert den Antrag ab. Später erringt Tamar Zandberg doch noch einen Erfolg. Netanjahus Leute stimmen ihrer Initiative zu, über die Anerkennung des Völkermords an Armeniern durch die Osmanische Regierung zu debattieren. Auch das ist kein Zufall, sondern ein Resultat geopolitischer Veränderungen, die gerade die Welt erschüttern. Immer wieder kommt während der Reise der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran zur Sprache. »Die internationale Vereinbarung war der richtige Schritt und muss fortgeführt werden, anstatt auf einen fürchterlichen regionalen Krieg zuzusteuern, den niemand gewinnen kann«, warnt Dov Chenin von der sozialistischen Chadasch.

Es ist früher Abend, aber immer noch gefühlte 40 Grad heiß, als die kleine Delegation der Linksfraktion die 28.000 Tonnen Stahl bestaunt, die im Wüstensand von Aschalim verbaut wurden. Vier Eiffeltürme könnten aus dieser Menge Eisen errichtet werden. Wie die unzähligen kleinen und großen Errungenschaften wurde auch Aschalim den Israelis nicht einfach so in den Schoß gelegt, sie haben hart dafür gearbeitet und tun es jeden Tag aufs Neue. Jeder Tag in Israel ist eine Herausforderung.

Martin Icke