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Meine Zeit, deine Zeit, unsere Zeit

erschienen in Lotta, Ausgabe 13,

Viele im Abendland gehen davon aus, dass jeder Mensch nur ein diesseitiges Leben hat. Grund genug, sich die Frage zu stellen: Wie gestalte ich meine Lebenszeit? Wofür gebe ich meine Lebenszeit aus und wie lange, wie oft gebe ich sie für etwas Bestimmtes aus? Damit sind zwei grundlegende Dimensionen der Zeitfrage erfasst. Die auf Emanzipation zielenden zeitpolitischen Fragen lauten: Wer bestimmt über die Zeitverwendung von Menschen in ihren zwei Dimensionen? Können Menschen unter Berücksichtigung eigner Bedürfnisse und der Bedürftigkeiten anderer über die Art und den Umfang ihrer Lebenszeitverwendung selbst bestimmen, oder können sie es nicht? Wer und was hindert sie daran? Wir leben in einer Gesellschaft, die die Zeitverwendung der Menschen vom Standpunkt der Profitabilität und des Kosten-Nutzen-Kalküls bewertet. Was ein angeblich notwendiger Zeitaufwand in der Wirtschaft ist, wird in einer kapitalistischen Gesellschaft dominant von der Frage her beantwortet: Was dient der Kapitalakkumulation und der Sicherung der ökonomischen Herrschaft einer Minderheit? Das dabei die eigentlich notwendige Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen allzu oft unter die Räder kommt, wissen wir alle – die Zeit für Zuwendung anderen gegenüber, die Zeit für die Entwicklung und Pflege des eigenen Körpers, der eigenen Seele, des eigenen Geistes, die Zeit, um das Gemeinwesen gemeinsam mit anderen zu gestalten. Das alles quetscht sich irgendwie zwischen abgeforderter Zeitverwendung, um eine gesellschaftliche Produktions- und Konsumtionsmaschine aufrecht zu erhalten – die viel Schädliches als Notwendiges deklariert. Dass dabei auch die notwendige Regenerationszeit von Natur missachtet wird, wissen alle, die um die ökologischen Folgen unserer Produktion und Konsumtion wissen. Wir verbrennen und vernutzen jahrtausendlang Gewordenes in zwei bis drei Jahrhunderten. Unsere Produktion und Konsumtion plündert die Natur aus, zerstört sie. Und wir fragen uns, ob wir den ökologischen Imperativ von Karl Marx, die Erde „den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen“ nicht schon längst aus dem Sinn verloren haben.  

Was wir brauchen ist eine Besinnung darauf und eine radikal-demokratische Bewegung dafür, jedem Menschen die Verantwortung für seine Lebenszeit zurückzugeben. Es geht also um eine Umverteilung der Macht über Zeit, was eine Umverteilung zugunsten selbst bestimmter Zeitverfügung in ihren beiden Dimensionen beinhaltet: Es geht darum, jedem Menschen eine Autonomie über seine Lebenszeit zu ermöglichen – eine Autonomie, die in Freiheit um die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer kreist. Stichworte des Anfangens damit sind: demokratische Verfügung über Produktions-, Lern- und Lebensmittel und -orte, radikale kollektive Arbeitszeitverkürzung, individuelle Zeitsouveränität, grundlegende materielle Absicherung der Existenz und Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilnahme und Teilhabe jedes Menschen – ohne Wenn und Aber. Auch die Verteilungsungerechtigkeit hinsichtlich der Zeitverfügung und -verwendung zwischen den Geschlechtern gehört abgeschafft. Frauen leisten doppelt so viel unbezahlte Arbeit in Erziehung und Pflege als Männer. Bei Paaren mit Kindern ist das Missverhältnis noch größer. Hier ist ebenfalls die Umverteilungsfrage zu stellen. Es gilt, eine kurze Vollzeit in Erwerbsarbeit für alle und mehr gemeinsame Familienzeit zu ermöglichen. Und es muss natürlich ein Recht auf Feierabend, ein Recht auf Feiertage, auf Auszeiten geben. Das sind alles wichtige Schritte zum Recht auf eine selbst bestimmte Verfügung über Lebenszeit – meine, deine, unsere.

Katja Kipping ist sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.