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Lohndumping durch Leiharbeit

Von Jutta Krellmann, erschienen in Clara, Ausgabe 28,

Der Fall Amazon zeigt erneut: Immer mehr Unternehmen in Deutschland beuten Leiharbeitskräfte systematisch aus

„Wir sind nur so viel wert wie ein Stück Dreck“, sagt eine Arbeiterin über ihren Berufsalltag. Nicht in einer Baumwollspinnerei in Bangladesch verdient sie ihr Geld, sondern in einem Großbetrieb mitten in der Bundesrepublik Deutschland: beim Versandhändler Amazon.

Der Betrieb rückte ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, nachdem Anfang Februar eine Filmreportage des Hessischen Rundfunks die Arbeits- und Wohnbedingungen von Leiharbeitern geschildert hatte.

Gezeigt wurde, wie in dem Konzern in Bad Hersfeld in Hessen Schikanen und psychischer Druck zum Arbeitsalltag gehören. Wie gut ausgebildete spanische Wanderarbeiter voller Hoffnung auf eine feste Anstellung angelockt wurden, aber bei einer Leiharbeitsfirma landeten und schlechter bezahlt wurden als versprochen. Wie sie in überfüllte Unterkünfte gepfercht und in vollge-stopften Bussen zur Arbeit gekarrt werden – rund um die Uhr bewacht von Sicherheitskräften aus dem rechten Spektrum.

Der Skandalfall Amazon machte erneut ein in ganz Deutschland verbreitetes Konzept deutlich: Lohndumping mit Leiharbeit. Bei diesem verrichten Leiharbeiter dieselbe Arbeit wie die Stammbelegschaft, bekommen aber weniger Lohn und leben in der ständigen Angst, am nächsten Tag wieder auf der Straße zu stehen.

Dass Amazon als einer der größten Arbeitgeber in der Region Osthessen Maßstäbe für Lohndrückerei, Tarifflucht und Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten setzt und gleichzeitig nur die Spitze des Eisbergs darstellt, bestätigt auch der örtliche DGB-Sekretär Klaus Schüller: „Da werden Branchen aufgespalten und Unternehmensteile ausgegliedert, damit man hinterher ganze Abteilungen über Leiharbeit wieder einstellen und die Beschäftigten je nach Branche um 30, 40 oder 50 Prozent schlechter entlohnen kann.“

Solche Zustände herrschen inzwischen auch in der Nahrungsmittelindustrie, im Dienstleistungssektor, in der Automobil-, Metall- und Elektroindustrie vor. Im Betrieb arbeiten die Menschen nebeneinander, verrichten die gleiche Arbeit. „Aber die Leiharbeiter fühlen sich immer als Beschäftigte zweiter Klasse und haben das Gefühl, dass sie als Erste wieder rausfliegen“, sagt Schüller.

Den Gewerkschaften sind auch andere Unternehmen in der Region bekannt, die ihre Stammbelegschaft systematisch schwächen. So sind etwa beim Buchgroßhändler Libri in Bad Hersfeld gut 150 von 600 Beschäftigten Leiharbeiter. Die Lebensmittelkette tegut lässt die Regale in ihren Filialen nicht vom Stammpersonal, sondern von einer externen Firma auffüllen. Die Beschäftigten werden über Werkverträge mit einem mageren Stundenlohn von rund 6,50 Euro abgespeist.

Die Enthüllungen über die Arbeitsbedingungen bei Amazon haben Wellen geschlagen und in einer aktuellen Stunde auch den Deutschen Bundestag beschäftigt. „Der Fall Amazon wirft ein Licht auf die schäbige Ausbeutung, die in Deutschland durch Leiharbeit mittlerweile möglich geworden ist“, sagte Jutta Krellmann, Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE, in der Debatte.

Sie erinnerte zudem daran, dass SPD und Grüne mit den Hartz-Gesetzen und der Deregulierung des Arbeitsmarkts vor zehn Jahren prekären Beschäftigungsformen wie Zeit- oder Leiharbeit, Werkverträgen und Scheinselbstständigkeit Tür und Tor geöffnet hatten. „Firmen wie Amazon nutzen nur die gesetzlichen Möglichkeiten, die ihnen die Politik gegeben hat“, erklärte sie.

In früheren Jahrzehnten sollte Leiharbeit lediglich Auftragsspitzen abdecken und Ausfälle durch Krankheit, Schwangerschaft oder Urlaub ausgleichen. Doch über die Jahre wurde die Höchstüberlassungsdauer, also der maximale Zeitraum, für den ein Beschäftigter an einen anderen Betrieb ausgeliehen werden darf, stetig ausgeweitet. Im Jahr 2004 wurde sie unter dem damaligen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) komplett abgeschafft.

Nun können Leiharbeiterinnen und -arbeiter auf Dauer im selben Betrieb eingesetzt werden. Das weckt Begehrlichkeiten. So ersetzte schon vor Jahren die inzwischen aufgelöste Drogeriekette Schlecker Stammpersonal durch Leiharbeitskräfte einer konzerneigenen Firma. Das machte Schule. Die Zahl der Leiharbeitskräfte hat sich seit dem Jahr 2003 beinahe verdoppelt und liegt derzeit bei knapp einer Million.

Goldgrube und Sklavenmarkt

Für die bundesweit knapp 20000 Zeitarbeitsfirmen und Niederlassungen mit Verleiherlaubnis ist die Leiharbeit zu einer Goldgrube geworden. Einige der größten Vermittler wie Randstad oder Adecco haben bis zu 65000 Leiharbeiter in ihrem Bestand.

Weil nur 55 Bedienstete der Bundesagentur für Arbeit für deren Überwachung zuständig sind, ist eine flächendeckende Kontrolle nahezu unmöglich. Leiharbeitsfirmen kaufen die menschliche Arbeitskraft billig ein und verkaufen sie teurer an die Einsatzbetriebe – ein profitables Geschäft, das an alte Sklavenmärkte erinnert.

Begünstigt wird dieses System durch eine weitere Praxis der Bundesagentur für Arbeit. Vielerorts arbeiten die Jobcenter nämlich eng mit den Zeitarbeitsfirmen zusammen. Für die Jobvermittler ist der Anreiz groß, erwerbslose Menschen in Leiharbeit statt in reguläre Arbeit zu vermitteln. Die Integration eines Arbeitslosen in die Leiharbeit zählt genauso als Erfolg wie die direkte Vermittlung in ein Unternehmen. Und wenn die betroffene Person nach ein paar Wochen wieder arbeitslos ist, kann sie erneut in Leiharbeit vermittelt werden – und die Agentur kann einen weiteren Erfolg vermelden.

Begründet wurde die Deregulierung in der Leiharbeit oft mit einem angeblichen Klebeeffekt, also der Erwartung, dass auf die Leiharbeit in einem Betrieb eine reguläre Anstellung folgt. Die Realität sieht aber anders aus. Nicht einmal jeder zehnte Leiharbeiter wird laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen.

Prekarisierung und massenhafter Missbrauch von Leiharbeit sind kein Naturgesetz, sondern von Menschen gemacht. Sie können auch wieder rückgängig gemacht werden. So gelang es vor zwei Jahren beim Essener Universitätsklinikum durch das Engagement der Personalräte und Druck von unten, die hauseigene Zeitarbeitsfirma aufzulösen und sämtliche Leiharbeitskräfte in die Stammbelegschaft zu überführen. Ebenso wurden für viele Betriebe und etliche Branchen inzwischen hohe Lohnaufschläge für Leiharbeiterinnen und -arbeiter vereinbart.

Doch ohne eine Rücknahme aller Gesetze zur Deregulierung des Arbeitsmarktes sind die Missstände nicht dauerhaft und vollständig zu beheben.