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Lohndrücker haben in Deutschland freie Hand

erschienen in Clara, Ausgabe 15,

Fehlender Mindestlohn ermöglicht Leiharbeit zu unwürdigsten Bedingungen.

Marlies Schmolling hat am 11. Dezember 2009 als Leiharbeiterin in einer Internetvertriebsfirma angefangen zu arbeiten. Die Ludwigsfelderin steht morgens 4.20 Uhr auf, um pünktlich bei der Arbeit zu sein. Sie arbeitet 120 Stunden im Monat. Acht Stunden täglich, von denen 1,5 Stunden auf ein Zeitarbeitskonto gehen. Also bekommt sie nur sechs Stunden bezahlt, denn auch Pausen werden rausgerechnet. Stundenlohn 4,80 Euro netto. Ihren ersten Lohn bekam sie am 20. Januar 2010, es waren 385,63 Euro, später wurden es dann 580,28 Euro. Die Zeitarbeitsfirma bekommt für eine wie sie zwischen 15 bis 18 Euro pro Stunde.
Ihre Wohnung kostet 400 Euro im Monat. Mit 20 Euro kommt die 57-Jährige in der Woche aus. Glaubt man den Regierenden, ist Marlies Schmolling entweder eine gering Qualifizierte, für die es nur gut ist, dass solche Jobs existieren, oder sie wird über die Leiharbeit beste Chancen haben, bald eine reguläre Arbeit zu bekommen. Beides ist gelogen.
Marlies Schmolling ist gut qualifiziert: Textilfacharbeiterin, Maschinistin, Disponentin, Köchin. Sie hat zwei Kinder großgezogen, und aus denen sind wunderbare Menschen geworden. Vor mehr als zwanzig Jahren fuhr sie das letzte Mal in den Urlaub. Den Fernseher, den sie sich gekauft hat, weil der alte kaputt ging, wird sie vier Jahre lang abbezahlen. »Ich habe meinen Stolz und will nicht von Almosen leben. Und ich habe bisher jede Arbeit gemacht«, sagt sie.
Erst ein Jahr Kurzarbeit nach Einführung der D-Mark, dann bei einem Unternehmen Duschbad abgefüllt und später am Fließband Lippenstifte zugedreht. 7000 Lippenstifte am Tag. Nach den Lippenstiften kamen Tischfeuerwerke. Nach zwei Jahren wurde die Firma geschlossen. Marlies Schmolling ist sofort zum Arbeitsamt: »Ich will eine ABM.« Dann hat sie Schulen und Kindergärten renoviert und eine Zusatzqualifikation zum Bedienen einer Motorkettensäge gemacht. Danach wieder ABM – Wald auslichten und Benjeshecken anlegen. Als sie 1996 wieder arbeitslos war, stand im Computer des Amtes »ungelernt«. Da ist sie fast ausgerastet. Das seien doch alles nur Männerberufe, die sie da habe, wurde ihr beschieden. Nicht zu gebrauchen. Es folgten eine hart erkämpfte Qualifizierung zur Köchin und Arbeit im Getreideinstitut Potsdam. Dann Krankheit, Arbeitslosigkeit, Hartz IV. Auf 165-Euro-Basis bei einer Firma Bestellzettel kommissioniert, Festvertrag für 1.275 brutto bekommen, Arbeit von sieben Uhr morgens bis oft spät in die Nacht, Mobbing kam dazu. Abgemagert und selbst gekündigt, nicht gesperrt worden, weil die Firma fürs Mobbing bekannt war. Ein-Euro-Job in einem Altenheim,danach Zeitarbeit bei Blume 2000 – nur nachts für 6,42 Euro die Stunde gearbeitet. Krank geworden.
Nun ist Marlies Schmolling wieder Leiharbeiterin. Neun Jahre muss sie noch arbeiten. Sie wird sich nicht unterkriegen lassen. Sie könnte aufstocken, aber dafür ist sie zu stolz.
Im September 2009 gab es knapp 1,4 Millionen sogenannte Aufstocker, viele von ihnen in Leiharbeit beschäftigt. Dazu kommen eine halbe Million Geringverdiener, die auf staatliche Unterstützung verzichten. Eine Studie der Universität Duisburg besagt: Deutschland hat einen der höchsten Niedriglohnanteile Europas, weil es hier keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Die große Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten hat eine abgeschlossene Berufsausbildung und stammt aus mittleren Altersgruppen. Die Zeitarbeitsbranche boomt und hat prekäre Beschäftigungsformen en masse produziert.

Jutta Krellmann, Sprecherin für Arbeit und Mitbestimmung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
»Die Bundesregierung weigert sich, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Dabei macht Europa es vor: 20 von 27 Mitgliedsstaaten verfügen bereits über einen Mindestlohn. Die Bundesregierung aber schiebt mit ihrer Politik immer mehr Menschen in die Armut ab. Inzwischen müssen bereits?1,37 Millionen Erwerbstätige ihren Lohn durch zusätzliche Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Jede und jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnbereich, also über sechs Millionen Menschen. Wir sagen: Gegen diese entwürdigenden Zustände hilft?nur ein existenzsichernder?Mindestlohn von 10 Euro.«