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Lasst uns miteinander reden!

erschienen in Clara, Ausgabe 46,

Sie sind nicht zum ersten Mal auf Einladung der Linksfraktion im Bundestag in Deutschland. Erinnern Sie sich noch an den ersten Besuch?

Andrej Kosolapow: Mein erster Besuch war im April 2017, da habe ich auch an einer Sitzung im Deutschen Bundestag teilgenommen. Das Thema war damals »Tauwetter statt der Eiszeit – Erneuerung der deutsch-russischen Beziehungen«. Darüber diskutiert haben Vertreter von staatlichen, diplomatischen und gesellschaftlichen Institutionen. Das waren sehr interessante, intensive und direkte Gespräche, die jetzt in diesem Jahr wieder auf Initiative der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag bei der internationalen Konferenz »Deutschland, Russland und die Zukunft« in Berlin fortgesetzt wurden. Solche Treffen zeigen deutlich, dass es im Deutschen Bundestag Freunde gibt, die an guten Nachbarschaftsbeziehungen trotz Sanktionen und Propaganda arbeiten.

Was möchten Sie über Ihre Stadt und deren doch sehr besondere Geschichte hier vermitteln?

Nicht nur in Deutschland, sondern überall, wo ich war und bin, versuche ich, umfangreiche Information über meine Heimatstadt weiterzugeben. Es gibt keinen Ort auf dieser Erde, der vom Faschismus mehr betroffen war als Stalingrad während des Zweiten Weltkriegs. Die völlig zerstörte und dann wieder aufgebaute Stadt wurde zum Symbol der Menschen für einen stabilen Frieden auf unserer Erde. Das heutige Wolgograd und damalige Stalingrad zahlte einen schrecklichen Preis. Bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Kriegs lebten dort mehr als 500.000 Menschen, nach dem 2. Februar 1943 waren es nur noch 32.000. Es war einfach eine humanitäre Katastrophe.

Mit dem Blick zurück weiß man auch, dass die Schlacht um Stalingrad der Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg war.

Ja, in Stalingrad wurde der Anfang für das Ende des Zweiten Weltkriegs entschieden. Der Sieg am Wolgaufer war der Beginn der Zerschlagung Nazideutschlands. Im Feuer der Stalingrader Schlacht entstand auch der Wunsch, so etwas nie wieder zuzulassen. Später wurden erste Städtepartnerschaften gegründet. Stalingrad und die britische Stadt Coventry gingen als erste Partnerstädte der Welt in die Geschichte ein. Es war der Anfang eines weltweiten Bündnisses gegen Krieg.

Frieden statt Krieg weltweit, das scheint im Moment nicht überall auf der politischen Agenda zu stehen?

Die Wolgograder sind im Laufe der Geschichte zu Vorreitern für mehr internationale Kontakte geworden. Im Jahr 1987 erhielt Wolgograd nach einer Entscheidung der Vereinten Nationen den höchsten Preis: »Stadt-Emissär der Welt«. Die Stadt hat inzwischen weltweit 45 Städtepartnerschaften, die reichen von Japan bis Amerika. Wir sind das Zentrum der öffentlichen Diplomatie Russlands und setzen uns für gegenseitiges Verstehen und für Zusammenarbeit ein. Wir wollen den Frieden bewahren, aber auch das historische Gedächtnis. Beziehungen mit anderen Völkern brauchen Vertrauen, dafür steht Wolgograd.

Aber wird das von allen so gesehen?

Wir sehen, dass nicht nur in Europa aufgrund innenpolitischer Ambitionen offen Meinungen geäußert werden, die den Lauf und die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs infrage stellen möchten. Das aber darf man nicht zulassen. Die Geschichte der Stalingrader Schlacht und ihr Erbe sind ein Vermächtnis und die beste Grundlage, sich für den Frieden einzusetzen.

Welche Erwartungen haben Sie an die deutsch-russischen Beziehungen in den nächsten Jahren?

In den vergangenen dreißig Jahren waren die offiziellen Beziehungen zwischen unseren Ländern unterschiedlich. Russland und Deutschland haben mal eng zusammengearbeitet und sich dann wieder voneinander entfernt. Aber unabhängig davon will ich betonen, dass die Beziehungen zwischen den Menschen unserer Städte immer respektvoll und freundlich waren. Heute erleben wir in der internationalen Arena wieder eine komplizierte Zeit. Und wir hoffen, dass die – nicht von uns aufgebauten – Barrieren überwunden werden. Auf der Ebene der Städte ist es einfacher, vor allem immer dann, wenn bereits gute partnerschaftliche Beziehungen existieren.

Welche Ideen gibt es von Ihrer Seite, aber auch von Russland insgesamt, um die direkten Beziehungen zwischen den Menschen und Organisationen neu zu beleben?

Wolgograd hat seit 1988 zwei Partnerstädte in Deutschland. Das sind Köln und Chemnitz. Es gibt verschiedene gemeinsame Projekte, auch einen Studenten- und Jugendaustausch. Deutsche Experten nehmen an allen in Wolgograd stattfindenden internationalen Foren und Konferenzen teil. Und dann gibt es nach wie vor die Zusammenarbeit Wolgograds mit dem Deutsch-Russischen Forum. Hier wird offen und öffentlich diskutiert. Am »Dialog an der Wolga« in Wolgograd nehmen immer auch die Bürgermeister der deutschen Partnerstädte teil, Vertreter des Deutsch-Russischen Forums und der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

Und was erwarten Sie speziell von der Fraktion DIE LINKE?

Unsere Stadt hat alle Schrecken des Kriegs erlebt. Jeder Wolgograder weiß von Kindheit an, was Krieg für die Menschheit bedeutet. Seit 70 Jahren kämpfen wir gemeinsam mit unseren Partnerstädten für den Frieden in der ganzen Welt, für Sicherheit und Stabilität. Wir sind solidarisch mit allen Partnern, die gegen Nazismus und Faschismus kämpfen. Wir verurteilen auch alle Erscheinungsformen des Extremismus. Wir freuen uns natürlich, dass die Linksfraktion für den Dialog und gute deutsch-russische Beziehungen gerade in dieser Zeit neuer internationaler Spannungen eintritt.

Gespräch: Kerstin Kaiser

Übersetzung: Olga Lorenz