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Steffen Bockhahn und Dietmar Bartsch

Kein Kind sollte arm sein

erschienen in Klar, Ausgabe 46,

Der Rostocker Stadtteil Schmarl ist kein typisches Plattenbaugebiet. Runde Fassaden und bunte Klinkerflächen lockern das Bild auf, ein grüner Stadtteil, direkt am Wasser. Trotzdem kämpft Schmarl mit ähnlichen Problemen wie andere DDR-Neubaugebiete: Die Hälfte der Bevölkerung zog seit dem Jahr 1990 weg, fast immer gingen Menschen mit höherem Einkommen.

In keiner anderen deutschen Stadt leben Arm und Reich so getrennt wie hier. Steffen Bockhahn, Rostocks Sozialsenator, erklärt es unter anderem mit dem Wachstum der Stadt. Die Hansestadt besteht aus großen Plattenbaugebieten und einem kleinen historischen Kern. Wer genug Geld hat, lebt dort.

Das Netzwerk gegen Kinderarmut trifft sich am erstgenannten Ort. Dort, wo hinter den schönen bunten Häuserfassaden jeder Cent dreimal umgedreht werden muss, bevor er einmal ausgegeben wird: im Stadtteil Schmarl. Eingeladen sind Engagierte aus der Praxis und von Verbänden sowie Politiker. Auch Steffen Bockhahn – er steht dem Rostocker Mammutressort Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport vor. Und als Gast der Initiator des bundesweiten Netzwerks gegen Kinderarmut, Dietmar Bartsch. Der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag fühlt sich in Rostock zu Hause, hier ist sein Wahlkreis, er kennt die Probleme, die Steffen Bockhahn benennt: In Rostock lebt jedes vierte Kind in einer »Bedarfsgemeinschaft«, also von Harz IV oder anderen Formen der Grundsicherung. »Mit den anderen, die knapp über dieser Schwelle auskommen müssen, sind wir bei einem Drittel Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen oder davon bedroht sind.«

Doch Bockhahn hat in der Bürgerschaft eine wichtige Entscheidung erkämpft. Ab dem kommenden Schuljahr können alle Schüler kostenfrei den öffentlichen Nahverkehr in der Stadt nutzen. Dass Jugendliche sich unabhängig vom Einkommen der Eltern bewegen können, sei wichtig für eine gute Entwicklung – gerade in einer Stadt wie Rostock, in der unterschiedliche soziale Gruppen stark »unter sich« leben. »Die Stadt verteilt die Tickets unbürokratisch über die Schulen, sie müssen nicht extra beantragt werden«, erläutert Bockhahn. Schon jetzt führe die Bürokratie zu »ganz viel Zurückhaltung« bei den betroffenen Familien. Die Familienförderung splittet sich in 160 verschiedene Leistungen, kritisiert er. Die Verfahren müssen »massiv vereinfacht« werden.

Verbände wie der Kinderschutzbund und das Netzwerk gegen Kinderarmut fordern eine einheitliche »Kindergrundsicherung«. Sie soll sämtliche Leistungen zusammenfassen, eine Antragstelle haben und den Kommunen somit auch Verwaltungsaufwand sparen. Vor Ort kann es viele Ideen und Konzepte geben, darin sind sich alle einig, »die zentralen Probleme« jedoch muss die Bundesregierung lösen.

Dietmar Bartsch schildert, dass sich auf Bundesebene nur langsam ein Bewusstsein für das Thema arme Kinder entwickelt hat. Noch in der letzten Legislaturperiode kamnicht einmal das Wort im Koalitionsvertrag vor. Der Kinderschutzbund und Sozialverbände schlugen Alarm, weil die Zahlen dramatisch anstiegen und die Vier-Millionen-Grenze erreicht hatten. Die Fraktion DIE LINKE legte im Parlament einen eigenen Aktionsplan vor. »Wenn es öffentlich Druck gibt, bewegt sich auch die Bundespolitik«, sagt Bartsch.

Jetzt wird das Netzwerk einen Leitfaden mit positiven Beispielen zusammenstellen. Dazu gehört das Modell Dormagen. Der ehemalige Oberbürgermeister und heutige Kinderschutzpräsident Heinz Hilgers nutzte »mit sehr langem Atem« alle Möglichkeiten, um Kinder gar nicht erst in Armut fallen zu lassen, erinnert sich Bartsch.

Das Konzept von Hilgers setzt auf frühen Kontakt zu den Familien, auf Prävention und Vernetzung. Rostocks Sozialsenator Bockhahn will diesen Ansatz auch verfolgen. Es ergibt Sinn, früh mit Hilfe anzusetzen: »Damit die Probleme nicht erst so groß werden.

Malte Daniljuk

 

Infokasten

Armut von Kindern ist Armut von Eltern. In Haushalten mit geringem Einkommen bleibt für Kinder wenig übrig.

Besonders betroffen:
• Alleinerziehende
• Familien mit drei oder mehr Kindern
• Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss
• 20 Prozent der Kinder leben in Deutschland mit einem elterlichen Einkommen auf Grundsicherungsniveau.
• 30 Prozent sind es in Ostdeutschland und sozial schwachen Regionen im Westen.
• 2800000 Kinder sind laut Kinderschutzbund betroffen.

Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche:
• Enge Wohnverhältnisse, kein eigenes Zimmer
• Oft fehlen Geräte wie Computer, Waschmaschine, Kühlschrank.
• Kurse außerhalb der Schule wie Schwimmen, Sport und Musikunterricht sind zu teuer.
• Klassenfahrten, Kino-, Tierpark- oder Theaterbesuche sind selten.

Dossier Kinderarmut der Linksfraktion: www.linksfraktion.de/themen/dossiers/netzwerk-gegen-kinderarmut/

 

Prävention ist nicht alles, aber viel …

Als Oberbürgermeister von Dormagen (Nordrhein-Westfalen) führte Heinz Hilgers 2006 das »Modell Dormagen« ein. Schon vor der Geburt arbeiten Hebammen eng mit den zukünftigen Eltern zusammen. Nach der Geburt eines Kindes besucht ein Sozialarbeiter die Familie. Der Kontakt zu den Familien findet auf Augenhöhe statt. Die kommunale Verwaltung änderte sich dafür: Die Ämter kommunizieren untereinander, die Arbeit zielt auf Unterstützung. Eltern können Beratung und Angebote auch ablehnen. Die reichen von persönlichen Gesprächen bis zum garantierten Betreuungsplatz oder auch der Kostenübernahme für Nachhilfe, Lernmittel oder Mittagessen. Hilfestellungen werden von der Geburt bis zum Beginn der Ausbildung gewährt. Zitat auf der Homepage: »Wir analysieren gemeinsam den Bedarf und stimmen die Angebote aufeinander ab.« In Dormagen nahmen nahezu alle Eltern an dem Projekt teil. Inzwischen trägt es den Titel »Netzwerk für Familien« (NEFF) und gilt bundesweit als Vorbild. Denn Vorsorge ist besser als Nachsorge.

Mehr unter: https://dormagen.de/leben-in-dormagen/kinder-familienfoerderung/netzwerk-fuer-familien/