Steven ist 17 Jahre alt, zu Hause im Saarland, er schreibt über sich: »Von Kinder- und Jugendarmut war ich selber betroffen und bin es im Grunde immer noch. Ich erlebe die Ausgrenzung am eigenen Leib. Durch die Scheidung meiner Eltern und die Arbeitslosigkeit meines Stiefvaters rutschten wir in Hartz IV. Mein Stiefvater arbeitet zwar wieder, aber wir haben trotz Arbeit nicht mehr zur Verfügung als mit Hartz IV. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Wir sind nicht faul … niemand von uns. Ich hoffe, ich habe eine Chance. Ich bin jung – und arm? Am Geld fehlt es oft – und doch bin ich reich, ich habe eine Familie, die mich lieb hat. Mut! Den habe ich noch!« Steven hat seine Geschichte öffentlich gemacht. Man kann sie lesen auf der Internetseite www.jugend-armut.de. Der 17-Jährige war es auch, der das Motto für die Kampagne gegen Jugendarmut erfand: »Jugend.Arm?Mut!« Was er nicht möchte: sich selbst zeigen. Armut, das sei einfach ein Makel, sagt er, keiner gibt das gerne zu.
Emrah Ördek dachte lange genauso. Er erzählt von der Zeit, als er mit 180 Euro zwei Monate lang auskommen musste. Das Arbeitsamt hatte ihm einen Teil seiner Bezüge gestrichen. Er hatte Unterlagen für seine Praktikumsstelle nicht pünktlich eingereicht. Noch weniger Geld, für den jungen Mann war das ein Desaster. Der Kühlschrank leer, er traute sich nicht mehr raus, ohne einen Cent in der Tasche wollte er keine Freunde treffen, hatte Existenzängste mit 23 Jahren, sein ganzes Denken drehte sich nur um die eine Frage: Woher bekomme ich etwas zu essen. Diese Gefühle und Erfahrungen schrieb er auf. In einem Rap. Im Sprechgesang erzählt Emrah, dass er früh aufwacht, in den Spiegel schaut, und darin kein Leben ist. Dass die Hoffnung fast gestorben ist und Perspektivlosigkeit sich breit macht. Am Ende sagt er: »Arm sein macht krank. Arm sein macht dreckig. Armut macht Verbrecher. Armut macht hässlich. Arm sein macht unglücklich.«
Eine verlorene Generation
Er hat den Text extra für diesen Abend in Saarbrücken verfasst, für die öffentliche Debatte »Eine verlorene Generation? Unsichere Lebensbedingungen Jugendlicher«. Im Saal sitzen Lehrer, Sozialpädagogen, Eltern, junge Leute. Eingeladen dazu hat Yvonne Ploetz. Sie ist die jüngste Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, mittlerweile 28 Jahre alt, seit Sommer Politikwissenschaftlerin und erst seit eineinhalb Jahren im Bundesparlament. Jugend und Armut, dieses Thema beschäftigt die junge Abgeordnete schon lange. Bereits als Studentin hielt sie Vorträge und Seminare dazu an der Universität in Trier ab, schaute sich immer wieder Zahlen an, verglich Daten und Fakten und stellte fest: »Kinderarmut und Altersarmut sind bekannt. Jugendarmut jedoch ist kein gesellschaftliches Thema. Weder in der Wissenschaft noch in der Politik.«
Dabei sprechen die Zahlen – europaweit – eine ganz andere Sprache. Eine aktuelle Analyse des Bundesamts für Statistik zeigt, dass es gerade für junge Leute düster aussieht. Insgesamt sind fünf Millionen Europäer im Alter von 15 bis 24 Jahren ohne Erwerb, ohne Perspektive, ohne Hoffnung. In den 27 Staaten der Europäischen Union sind durchschnittlich 20,5 Prozent dieser Altersgruppe generell vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Zahlen, Statistiken aus dem Sommer 2011. Damit bekommt die Schuldenkrise ein Gesicht. Es ist jung und arm. Das hängt auch damit zusammen, dass Jugendliche deutlich schneller und häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen sind als andere. Beispiel Schweden: Liegt die Arbeitslosigkeit insgesamt bei 7,5 Prozent, macht sie bei den 15- bis 24-Jährigen über 32 Prozent aus. Italien zählt offiziell acht Prozent Menschen auf Arbeitssuche, bei den Jugendlichen sind es fast 28 Prozent. Spitzenreiter ist Spanien mit rund 46 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, dicht gefolgt von Griechenland mit gut 38 Prozent. Und betroffen von diesem Schicksal, »draußen zu sein«, sind ausnahmslos alle. Sowohl diejenigen mit guten Schul- und Studienabschlüssen als auch solche, die auf Umwegen ins Erwerbsleben gehen.
Yvonne Ploetz ist seit Monaten quer durch das Saarland auf Tour mit ihrer Kampagne gegen Jugendarmut. Sie lädt Experten ein, prominente Politiker, zeigt Filme, steht mit Rockmusikern auf der Bühne. »Die offizielle Politik«, so sagt sie, »sieht Jugendliche immer nur als Generation, die Probleme macht. Aber nicht als Gruppe, die Probleme hat.« Laut Statistik sind in Deutschland »nur« 9,1 Prozent der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit. Das ist im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern gut. Es ist aber ebenso trügerisch. Denn auch in der Bundesrepublik sind junge Menschen häufiger mit Erwerbslosigkeit konfrontiert als die Gesamtbevölkerung. Hinzu kommt: In die Zahlen nicht hineingerechnet sind die vielen, die in Fördermaßnahmen und Übergangssystemen stecken. Auch wird verschleiert, dass gerade junge Frauen und Männer sogenannten atypischen Beschäftigungen nachgehen. Dazu gehören befristete Jobs, Leiharbeit, Minijobs. 38,5 Prozent der genannten Altersgruppe arbeiten im Niedriglohnbereich, kommen kaum über die Runden. Vorsorge für später ist undenkbar, und was bleibt, ist eine dauerhafte Abhängigkeit von den Eltern oder den Ämtern. Das ist hausgemacht durch Regierungspolitik.
Keine Gegenwart, keine Zukunft
Nadine Markert beispielsweise ist auf ihre Eltern angewiesen. Sie sitzt an diesem Abend im Publikum. Nadine ist 21 Jahre alt. Das heißt – so schreibt es das Gesetz vor – sie darf bis zum 25. Lebensjahr nicht von zu Hause ausziehen. Nicht, wenn sie kein eigenes Geld verdient. Dabei möchte sie nichts lieber als das. Zurzeit arbeitet sie in einer Werkstatt für Behinderte. Sie ist gehbehindert, seit ihrer Geburt. Damit kann sie leben. Womit sie nicht leben will, ist, dass sie bislang ohne wirkliche Arbeitschance geblieben ist. Nadine lässt sich gerade anlernen für den Empfang oder die Rezeption. Sie absolviert Computerkurse, kommuniziert mit Kunden am Telefon, macht die Terminplanung. Das macht sie gut, und sie macht es gern. Jetzt braucht sie nur noch einen Job. Denn sie will für sich allein sorgen, endlich unabhängig sein.
»Es ist eine Sisyphusarbeit«, sagt Yvonne Ploetz. Seit sieben Monaten hört sie nicht auf, Nadine, Emrah, Steven und den vielen anderen Jugendlichen ihre Stimme zu geben – im Parlament und außerhalb. Im Herbst wird sie Anträge zur Jugendarmut in den Bundestag einbringen. Unter anderem muss das Auszugsverbot für Jugendliche aufgehoben werden, ebenfalls die komplette finanzielle Leistungskürzung, und für den Start ins Leben sind gute Ausbildungs- und Arbeitschancen nötig. Denn immerhin – so heißt es – sind die jungen Leute die Zukunft der Gesellschaft. Im Moment aber gibt diese vielen nicht einmal eine lebenswerte Gegenwart.