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Immer mehr, doch für was und wen?

erschienen in Clara, Ausgabe 33,

Gastkolumne von Ingo Schulze.

In der Erzählung „Alte Abdeckerei“ von Wolfgang Hilbig heißt es: „Es war seltsam, dass man Gefahr lief, aus der Welt zu fallen, wenn man sich für das Allereinfachste interessierte […] und vielleicht sogar Gefahr, aus der Welt zu verschwinden. Es war, als ob immer auch die einfachsten Dinge, wenn man nur lange genug über sie nachdachte, tief hinab ins Untergründige reichten, als ob sie gar mit einer Faser ihres Wesens an das verborgene Böse gebunden waren.“    Was Wolfgang Hilbig mit universaler Geltung erfasst, ist auch eine Erfahrung, die jede und jeder von uns im Alltag als Doppelbödigkeit erfährt. Mitunter reicht es schon, sich die Bedingungen zu vergegenwärtigen, unter denen unsere Lebensmittel hergestellt worden sind. Das lässt sich weiterführen über die Produktionsbedingungen für die Baumwolle meines Hemdes und die Bedingungen, unter denen der Stoff zusammengenäht wurde – ganz zu schweigen von den Rohstoffen und Produkten, die unser way of life Tag für Tag, Stunde um Stunde benötigt. Das, was die schöne Welt unserer Waren im Innersten zusammenhält, ist Schufterei und sklavenähnliche Arbeit. Man braucht nur – mal mehr, mal weniger – etwas an der Oberfläche zu kratzen, und schon beginnt die Höllenfahrt. Es reicht schon eine Feststellung wie die, dass 60 Prozent der Umweltschäden, die die Bevölkerung der Schweiz verursacht, außerhalb ihrer Landesgrenzen zu finden sind. Für Deutschland wird das in ähnlicher Weise zutreffen.   Das heißt: Ja, wir haben blühende Landschaften, weil wir unsere alten Dreckschleudern stillgelegt und verschrottet oder verkauft haben. Wir müssen den Dreck nicht mehr selbst schlucken, unseren Dreck, das können wir uns leisten, schlucken jetzt andere.  Wenn ich heute einen neuen Grundwiderspruch des Kapitalismus benennen sollte, ohne den bisherigen als überwunden anzusehen, dann würde ich ihn vielleicht als das Phänomen von 89 bezeichnen: sich als unangefochtenen Sieger der Geschichte zu begreifen, obwohl auf der ganzen Erde unhaltbare Zustände produziert werden.    Steht nicht die Praktik und Praxis einer Gesellschaft, die den privaten Gewinn und seine beständige (exponentielle) Vermehrung zur Ultima Ratio erklärt, dem Gemeinwohl wie dem Überleben der Menschen als Gattung entgegen?   Es ist der Reichtum einer – gemessen an der Bevölkerungszahl der Erde – verschwindenden Minderheit, der die Geschicke dieser Welt lenkt. Im Jahr 2010 lag das Vermögen globaler Finanzanlagen bei 210 Billionen US-Dollar. Dem steht ein globales Sozialprodukt von 59 Billionen gegenüber. Der Anspruch der Vermögenden auf Verzinsung dieser Gelder (und wer gibt sich da schon mit ein oder zwei Prozent zufrieden?) führt zu Lohndruck, Privatisierung von öffentlichem Eigentum und öffentlicher Daseinsvorsorge, Abbau von Sozialleistungen, zur Überausbeutung der Natur und Verschuldung von privaten Haushalten, Unternehmen und Staaten.    Mitunter erscheint mir der Sinn von Armeen und Gerichten vor allem darin zu liegen, die Akzeptanz dieser „magischen“ Zahlen, die kaum mehr durch tatsächlich vorhandene Dinge gedeckt werden können, aufrechtzuerhalten.    Der Sinn jener Zahlen besteht allein in ihrer weiteren und schnelleren Vermehrung. Das wäre nicht weiter beängstigend, wenn dieses virtuelle Geld nicht mit seinem Imperativ der Vermehrung der realen Welt diktieren würde, was sie zu tun und was sie zu lassen hat. Je größer der private Reichtum, desto destruktiver seine Wirkung auf das Gemeinwesen und den sozialen Zusammenhalt der Staaten. Die Demokratie wird zum Deckmantel einer De-facto-Oligarchie.   Ingo Schulze, im Jahr 1962 in Dresden geboren, studierte Klassische Philologie und Germanistik. Seit dem Jahr 1993 lebt er in Berlin, er hat zwei Töchter. Er ist Autor von Romanen, Erzählungen, Essays. Übersetzungen seiner Bücher liegen in 30 Sprachen vor. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt, darunter im vergangenen Jahr mit dem Bertolt­Brecht-Preis der Stadt Augsburg. Seit dem Jahr 2010 ist er Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste.