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„Fürsorge und Pflege lassen sich nicht rationalisieren“

Von Katja Kipping, erschienen in Clara, Ausgabe 39,

Mit der Kampagne „Das muss drin sein.“ will DIE LINKE darauf hinwirken, dass in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege mehr Personal eingestellt wird.

DIE LINKE beklagt, dass in Kitas, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Personal fehlt. Wie hoch ist der Bedarf?   Katja Kipping: Überall – im Bildungs- und Gesundheitswesen – wird deutlich mehr Personal benötigt, als gegenwärtig vorhanden ist. Allein in Krankenhäusern fehlen rund 100.000 Pflegekräfte. Dort herrschen teils unhaltbare Zustände: So ist in Nachtschichten mancherorts eine einzige Krankenpflegerin für 30 Patientinnen und Patienten zuständig.    Was sind die Folgen?   Durch Arbeitsverdichtung und massiven Personalmangel entstehen eine Überbelastung der Pflegekräfte und eine pflegerische Unterversorgung: Die Sicherheit der Patientinnen und Patienten wird genauso gefährdet wie die körperliche und seelische Gesundheit der Pflegekräfte. In deutschen Krankenhäusern herrscht ein regelrechter Pflegenotstand.    Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen diesen Zuständen und der zunehmenden Privatisierung von Krankenhäusern?   Privatisierung verschärft die Probleme. Die dramatische Unterfinanzierung der öffentlichen Krankenhäuser führt dazu, dass ein extremer Kostendruck besteht, der auf das Personal abgewälzt wird. Immer weniger Ärztinnen, Pfleger und weiteres Personal müssen in immer weniger Zeit immer mehr Arbeit leisten. Es geht so weit, dass die Zeit bemessen wird, die eine Krankenpflegerin am Bett des Patienten verbringen darf. Dabei kann man gerade den Bereich der Pflege- und Sorgearbeit nicht bis ins Unendliche optimieren. Denn Fürsorge, Liebe und Pflege lassen sich nicht rationalisieren.   Wie schätzen Sie den Kita-Bereich ein?   Bei den Erzieherinnen fehlen laut ver.di bundesweit etwa 120.000 zusätzliche Stellen, um die empfohlenen Personalschlüssel zu erfüllen. Das heißt, dass eine Erzieherin maximal drei Kinder unter drei Jahren gleichzeitig betreuen sollte. Hier müssen dringend Stellen geschaffen werden.   Beschäftigte in Erziehungsberufen klagen oft über Teilzeitverträge.   Kürzere Arbeitszeiten wären an sich kein Problem – ganz im Gegenteil. Das setzt aber voraus, dass der Stundenlohn entsprechend hoch ist, um gut davon leben zu können. Heute gibt es jedoch in manchen Regionen Teilzeitverträge in Kombination mit kurzen Kita-Öffnungszeiten. Es wird versucht, zulasten der Erzieherinnen Kosten einzusparen. Das geht übrigens auch zulasten der Eltern, die ebenfalls von kurzen Öffnungszeiten betroffen sind. Im Ergebnis sind viele Erzieherinnen dazu genötigt, ihr Einkommen durch weitere Jobs aufzustocken. Für andere ist durch die geringe Einzahlung in die Rentenkasse Altersarmut programmiert.   Auch im Bereich der Altenpflege wird immer wieder von Personalmangel gesprochen.   In der Altenpflege gibt es zwei Probleme. Erstens, es mangelt an Personal. Das liegt auch daran, dass – zweitens – die Bezahlung viel zu niedrig ist. Pflegekräfte im Altenpflegeheim verdienen zum Beispiel rund 30 Prozent weniger als in einem Krankenhaus. Hinzu kommt, dass die Bezahlung in Ost und West sehr unterschiedlich ist: Eine Altenpflegerin in Baden-Württemberg verdient fast 1.000 Euro mehr als ihre Kollegin in Sachsen-Anhalt. Auch hier gilt die Forderung nach gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit.   Geringe Bezahlung scheint insbesondere in den Bereichen Altenpflege und Kindererziehung ein Thema zu sein.   Menschen in Pflege-, Sozial-, und Erziehungsdiensten verdienen deutlich weniger als in anderen Berufen. Warum verdient jemand, dem wir unser Geld anvertrauen, mehr, als die Person, der wir unsere Kinder oder unsere pflegebedürftigen Eltern anvertrauen?    Betroffen sind von dieser Ungerechtigkeit ja vor allem Frauen.   Allein bei den Erziehungsberufen beträgt der Frauenanteil 90 Prozent. Wir stehen also gesellschaftlich vor dem Problem, dass vor allem Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, weniger wert scheinen. Hier zeigt sich die dem Patriarchat und Kapitalismus innewohnende Geringschätzung gegenüber der Produktion des Lebens beziehungsweise der Sorgearbeit.   DIE LINKE hat die von Ihnen geschilderten Zustände zum Schwerpunkt der Kampagne „Das muss drin sein.“ gemacht. Was ist das Ziel der Kampagne?   Die Nachrichten werden dominiert von Meldungen über Kriege und Terror und von Debatten über Grenzsicherung. Fragen sozialer Sicherheit werden hingegen oft außerhalb des Radars der großen Öffentlichkeit verhandelt. Dabei sind davon Millionen Menschen in diesem Land betroffen. Diese Kampagne soll das Thema soziale Sicherheit stärker ins Zentrum rücken. Mehr Personal in Pflege, Bildung und Erziehung – das ist eine der Forderungen. Aber es geht auch um die Aufwertung von Pflege- und Erziehungsarbeiten insgesamt.   Der von Ihnen skizzierte Personalbedarf ist enorm, wie soll er finanziert werden?   Die Kosten für die Neueinstellungen bei Pflegekräften würden sich auf etwa 3,5 Milliarden Euro belaufen. Das klingt erst einmal viel. Dem steht aber gegenüber, dass durch zusätzliches Personal Behandlungsfehler reduziert und die Genesung der Patientinnen und Patienten beschleunigt würden, also weniger Kosten für die Folgen des Personalmangels entstehen. Vor allem aber brauchen wir eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, in die alle, egal ob Großunternehmerin oder Sozialarbeiter, einzahlen, um die Pflege angemessen zu finanzieren und alle notwendigen Pflegeleistungen abzusichern. Zudem braucht es gesetzliche Regelungen, damit Familienmitglieder sozial abgesichert Pflege und Betreuung übernehmen können – auch für längere Zeit.   Was unternimmt DIE LINKE im Parlament, um für mehr Personal zu sorgen?   Dort untermauern wir die Kampagne durch Anträge und Anfragen. So hat DIE LINKE beispielsweise beantragt, die Krankenhausfinanzierung auf solide Füße zu stellen, indem die diagnoseorientierten Fallpauschalen abgeschafft werden und somit eine der zentralen Ursachen für die Personalmisere an Krankenhäusern beseitigt wird. Und die Fraktion hat eine gesetzliche Regelung für die bedarfsgerechte Personalbemessung an Krankenhäusern gefordert.   Was ist das?    Es geht darum, ein bundesweit verbindliches Verfahren zu etablieren, um zu regeln, wie die Stellenpläne der Krankenhäuser zu berechnen sind. Das Ziel ist eine qualitativ hochwertige Pflege und Versorgung für alle.   Das Interview führte Ewald Riemer.   Katja Kipping ist sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Vorsitzende der Partei DIE LINKE