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Es gibt mehr als Mann und Frau

Von Doris Achelwilm, erschienen in Clara, Ausgabe 47,

Vanja ist nicht weiblich, obwohl die Geburtsurkunde das seit 27 Jahren festschreibt. Aber Vanja ist auch kein Mann. Wo liegt der Fehler? Gibt es überhaupt einen?

Unsere Gesellschaft und unsere Gesetze gehen bislang davon aus, dass es zwei Geschlechter gibt: männlich, weiblich. Traditionell werden Menschen nach der Geburt geschlechtlich nach äußeren Merkmalen zugeordnet. Bei manchen Neugeborenen jedoch lässt sich das Geschlecht nicht eindeutig feststellen. Selbst mit dem vermeintlich sicheren Verfahren der Chromosomenanalyse nicht. Männer haben XY, Frauen haben XX und Vanja hat nur X. Und nun?

Vanja beantragte im Jahr 2014 beim Standesamt, anstelle von weiblich die Option »inter/divers« wählen zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt. Vanja klagte sich daraufhin gemeinsam mit der Kampagnengruppe Dritte Option durch alle Instanzen. Bis zum Bundesverfassungsgericht. Das entschied im Oktober 2017: Alle Menschen haben das Recht auf einen »dem Selbstverständnis gemäßen Geschlechtseintrag«. Was für ein wegweisendes Urteil!

Die Bundesregierung wurde aufgefordert, bis Ende 2018 ein Gesetz zu verabschieden, das einen positiven Geschlechtereintrag jenseits von weiblich und männlich bereithält. Das Bundesinnenministerium unter Horst Seehofer legte einen Gesetzentwurf vor, der eine dritte Option, »divers«, ermöglicht. Erwachsene intergeschlechtliche Menschen sollen – gegen Vorlage einer (diskriminierenden und kostenpflichtigen) ärztlichen Bescheinigung – diesen Eintrag nutzen können. Das ist ein minimaler Ansatz, der gleichermaßen kritisiert wurde von Jurist*innen, Interessen- und Wohlfahrtsverbänden, queeren Communities und auch von uns, der Fraktion DIE LINKE.

Unsere wichtigsten Fragen sind: Wenn der Geschlechtseintrag laut Bundesverfassungsgericht dem eigenen Selbstverständnis entsprechen soll, warum dann die Beschränkung auf Menschen mit sogenannten Varianten der Geschlechtsentwicklung? Warum die Fortsetzung medizinischer und staatlicher Definitionsmacht in einem Bereich, in dem Selbstbestimmung das Sagen haben soll? Die Linksfraktion lehnte diesen Gesetzentwurf ab und stellte eigene Anträge. Wir wollen, dass alle Menschen selbstbestimmt entscheiden dürfen, ob ihr Personenstand männlich, weiblich, divers oder anders lauten soll. Die ärztliche Bescheinigung muss weg. Zwangsgutachten und Atteste stellen eine unnötige Hürde und Pathologisierung für Menschen dar, die endlich nur sie selbst sein wollen. Eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt muss ausreichen. Das gilt auch für transgeschlechtliche Menschen. Unsere Anträge wurden abgelehnt.

Darüber hinaus bleibt das Verbot aufschiebbarer geschlechtsangleichender Operationen an Kindern – so steht es immerhin auch im Koalitionsvertrag – eine Leerstelle. Und das, obwohl seit Langem bekannt ist, dass Operationen zur »Klärung« eines mehrdeutigen Geschlechts bei Neugeborenen zu lebenslangen körperlichen und gesundheitlichen Qualen führen können. Nach dem Erfolg vor den Karlsruher Verfassungsrichtern ist die Enttäuschung über die bisherigen politischen Entscheidungen groß.

DIE LINKE bleibt bei ihrer Haltung: Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Ein Geschlechtsempfinden jenseits von weiblich oder männlich ist okay und keine Krankheit. Die selbstbestimmte Änderung des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts muss ohne Schikanen möglich sein.

Doris Achelwilm ist queerpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE