Einmal im Jahr werden Zahlen verkündet. Einmal im Jahr gibt es die Schlagzeile: „Kinderarmut als Dauerzustand“. Im September dieses Jahres hieß es, rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in Armut. Veröffentlicht in einer Studie der Bertelsmann Stiftung.
Kinderarmut ist kein Thema für die Regierung. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD taucht das Wort Kinderarmut nicht ein einziges Mal auf. Ursula von der Leyen (CDU), Ex-Sozialministerin, meinte einst: „Armut in einem so reichen Land wie Deutschland ist relativ.“
Doch Armut ist nicht relativ. Sie fühlt sich mies an, sie grenzt aus, und sie verbaut Lebenschancen. Mindestens zwei Millionen Kinder unter 18 Jahren erleben das Tag für Tag: beengtes Wohnen, wenig Geld für gesundes Essen, Sportschuhe oder gar Urlaub. Ein eigenes Kinderzimmer? Ein Wunsch. Ausreichend warme Winterkleidung? Nicht vorhanden. Kino, Konzert oder Theater? Nicht bezahlbar.
Einer, der weiß, was Armut mit Eltern und Kindern macht, ist Bernd Siggelkow. Der Theologe gründete im Jahr 1995 das christliche Kinder- und Jugendwerk Die Arche e.V. in Berlin Hellersdorf. „Abgeordnete reden über arme Kinder, sie kennen aber kein armes Kind“, weiß er aus Erfahrung.
Die Politik schnüre Hilfspakete, ohne daran zu denken, was sie bringen, kritisiert er. Als Beispiele nennt er das Bildungs- und Teilhabepaket, die Erhöhung des Kindergelds um 2 Euro im Monat und das Streichen von Sachleistungen bei Hartz IV. „Die Perspektive und Würde der Eltern ist verloren gegangen“, erzählt Siggelkow. Wer für sich selbst keine Hoffnung mehr hat, „kann auch nichts mehr an die eigenen Kinder vermitteln“.
Laut Bertelsmann-Studie bekamen im Jahr 2015 im Vergleich zum Jahr 2011 mehr Kinder die staatliche Grundsicherung. Knapp 15 Prozent der unter 18-Jährigen waren auf Hartz IV angewiesen. Von allen betroffenen Minderjährigen lebten 50 Prozent bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern, 36 Prozent in Familien mit drei oder mehr Kindern.
Für viele Kinder ist Armut ein Dauerzustand. 57 Prozent der betroffenen Mädchen und Jungen im Alter von 7 bis 15 Jahren bezogen drei Jahre und länger den Mindestsatz an staatlicher Zuwendung. Die höchsten Hartz-IV-Quoten für Kinder und Jugendliche verzeichnen Großstädte wie Berlin und Frankfurt am Main.
Politik sei „eine Herausforderung“, sagt Bernd Siggelkow, „sie muss gerade den Menschen gerecht werden, die Hilfe brauchen“. Sein Verein kümmert sich mittlerweile in Berlin, Hamburg, Köln und sieben weiteren Städten um insgesamt 4000 Kinder und Jugendliche. 90 Prozent der Kinder kommen nicht über die Eltern zur Arche. Sie bringen sich gegenseitig mit – und bleiben. Die Kinder haben hier feste Bezugspersonen. Sie erhalten warmes Essen, spielen zusammen, machen Hausaufgaben. Und das Wichtigste: Sie erfahren Vertrauen und Wertschätzung.
Im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Kinderarmut verletzt dieses Menschenrecht. Die Familieninterviews der Studie zur Kinderarmut in Deutschland belegen das. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, sagt: „Kinder können ihre Lebenssituation nicht selbst ändern.“ Deshalb habe der Staat eine besondere Verantwortung. „Kinderarmut in Deutschland darf sich nicht weiter verfestigen“, fordert Dräger.
„Der Erfolg der Arche ist der Misserfolg der Gesellschaft“, sagt der Arche-Gründer Siggelkow. Bundesweit fängt sein Verein zwar 4000 Mädchen und Jungen auf, Deutschland aber hat rund zwei Millionen arme Kinder. „Das geht einfach nicht für ein Wohlstandsland“, sagt Bernd Siggelkow.