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Er weiß, wo es lang geht

erschienen in Clara, Ausgabe 5,

Manfred Koll, Chef-Chauffeur der Fraktion DIE LINKE, ist 65 geworden

Fast jeden Morgen das gleiche Ritual: »So, da sind wir, bitte, Gregor«, sagt Manfred Koll, den alle nur als »Manne« kennen. »Prima, danke und bis später.« Der knappen Antwort folgt ein Lächeln seines Chefs, Gregor Gysi, der an diesem Vormittag vor dem Bundestag abgesetzt wird.
Vertraut und sehr höflich gehen der Chef und sein Fahrer seit vielen Jahren miteinander um, genauer: seit 1991. Beide respektieren und schätzen sich. »Manne ist ein ungewöhnliches Beispiel an Zuverlässigkeit. Außerdem ist er verschwiegen und fährt in jeder Situation sicher mit dem Auto«, sagt Gregor Gysi. Er genießt es, wenn sein Fahrer stets pünktlich, manchmal sogar bereits Minuten vor dem vereinbarten Termin bereitsteht. Das bestätigt auch der zweite Chauffeur in der Fraktion DIE LINKE, Dietmar Fischer: »Manne ist für jede Fahrt auf den Punkt vorbereitet, wie bei einem Buchhalter, bei dem alle Zahlen stimmen müssen, achtet er pedantisch auf alles, was sein Auto und seinen Fahrgast angeht«, sagt Fischer.
Wenn die Zeit zwischen den Terminen knapp wird, beginnt der Mann am Lenkrad nicht zu rasen, sondern fährt zügig und sicher, ohne Hektik aufkommen zu lassen. Über Drängler oder Raser schmunzelt Manne Koll nur und murmelt manchmal höchstens: »so muss der doch Herzschmerzen bekommen«. Im Radio läuft die Musik, die dem Chauffeur gefällt, meist Schlager oder Oldies. »Der Mann am Steuer bestimmt, was im Radio läuft, es ist schließlich sein Arbeitsplatz, an dem er sich wohl fühlen soll«, sagt der Stammgast im Fond, Gregor Gysi.

Er habe eine hohe Meinung von seinem Fahrer, nicht nur wegen seiner verlässlichen Arbeit und seiner offenen Art, sondern auch wegen dessen Lebensgeschichte. »Mit Manne kann ich über alles reden, da habe ich überhaupt keine Bedenken. Der sagt, was er denkt, und das brauche ich manchmal auch«, verrät der Fraktionschef. Manfred Koll kutschiert seit 1964 politische Größen des deutschen Ostens. Erst für das Zentralkomitee der SED, nach der Wende die Spitzenfunktionäre der PDS.

Der geborene Berliner erlebte eine turbulente Kindheit. Seine Mutter gab ihn aus Sorge, ihn nicht durchbringen zu können, zur Adoption frei. Unter ärmlichsten Verhältnissen wuchs Manfred bei Pflegeeltern im Berliner Osten auf. Die eigene Mutter lernte er erst mit 36 Jahren kennen. Sein neunter Geburtstag wäre um Haaresbreite auch sein Todestag gewesen. Genau an diesem Tag überlebte er nur durch Zufall eine schlimme Schiffsexplosion auf der Spree. Ferienkinder sollten zum Müggelsee schippern. »Ich wollte oben auf dem Bug bleiben. Die Explosion des Kessels passierte unten im Rumpf des Dampfers. Sie riss viele meiner Klassenkameraden in den Tod. Ich wurde ins Wasser geschleudert und von einem Westberliner Angler heraus- gefischt«, erzählt Manne und seine Stimme stockt. Manchmal geht er in Friedrichsfelde am Gedenkstein für die Opfer des Unglücks vorbei. »Das lässt mich nie mehr ganz los.«
Manfred Koll wollte eigentlich Koch oder Fleischer werden. Nach dem Krieg wurden aber vor allem Maurer gebraucht und so lernt Manne, wie ein Stein, ein Kalk, ein Bier funktioniert. Er baut Teile der Frankfurter Allee auf, Häuser im Hans-Loch-Viertel und in Berlin-Baumschulenweg. Nebenbei rudert er leidenschaftlich als Schlagmann im Doppelzweier oder -vierer. Der Berliner gehört 1963 zu den ersten Wehrpflichtigen der NVA und wird danach Berufskraftfah-rer im ZK der SED. Er kurvt mit Wolga, Tatra, Citroen, Peugeot oder Tschaika durch
die ganze DDR.
Zwei Unfälle erlebt Manne unverschuldet: Bei Suhl kam ihm ein LKW der Freunde, wie die sowjetischen Truppen in der DDR genannt wurden, entgegen. Der Fahrer war betrunken und zwang ihn mit seinem Tatra nach rechts zu ziehen. »Ich rutschte haarscharf an den Bäumen vorbei. Trotzdem hat er mir die gesamte linke Seite aufgerissen«, erinnert sich Manne. Der andere Unfall war tierisch. Ein Vierzehnender sprang auf die Fahrbahn. Der Hirsch und das Auto erlitten Totalschaden.
Solche und ähnliche Geschichten kann der Mann, der so scheint es, mit der Fahrerlaubnis auf die Welt gekommen ist, stundenlang erzählen.

Manne zieht die Mundwinkel nach oben, hebt den Kopf und grinst, wenn er über seinen Chef spricht. »Mit Gregor zu arbeiten ist sehr anstrengend, immer volles Programm. Der ackert richtig. Da gibt es kaum Freiraum. Aber das ist mir lieber, als andere Erfahrungen zu früheren Zeiten. Bei Gregor weiß ich genau, wofür ich das mache.« Nach einem langen Tag gehen beide manchmal noch essen und trinken gemeinsam ein Bierchen. »Ich habe Gregor in den guten und schwierigen Zeiten nach der Wende erlebt, als nur wenige von den Genossen aus der DDR von ihm etwas wissen wollten.« In all den Jahren sei nie ein böses Wort zwischen ihnen gefallen. Gregor ist für mich einmalig. Ich bin richtig stolz, dass ich so einen Menschen fahren darf«, schwärmt Manne. »Viele wissen doch gar nicht, was der alles drauf hat. Der macht sich drei Stichpunkte und redet vor Hunderten oder Tausenden zwei Stunden und die sind aus dem Häuschen«, verrät der Cheffahrer der Fraktion DIE LINKE. Zum Beweis rückt er noch zwei Episoden
heraus:

Zu den Momenten, die Manfred Koll tief unter die Haut gingen, gehört die Trauerfeier für Tamara Danz, Kultsängerin des Ostens. Manne hatte Gregor abgeholt und nach Hoppegarten gefahren. Während der kurzen Fahrt schrieb der sich ein paar Stichpunkte auf. Sie waren für die Grabrede bestimmt. Dem Politiker gelang es unglaublich gut, die Gedanken der Trauergemeinde wiederzugeben. »Hinterher kamen mehrere Leute und wollten seine Rede haben. Die gab es aber nicht, weil Gregor frei sprach«, erzählt Manfred Koll.

Bei einem anderen Erlebnis feixt Manne schon, bevor er überhaupt loslegt zu erzählen. 1994 ist Gysi in die Uni nach Passau eingeladen. Bereits eine Woche vorher begannen die bayrischen Medien über den Ostkommunisten herzufal-len. »Das war schlimm, so dass ich befürchtete, Gregor würde da ernste Schwierigkeiten bekommen. Aber es kam ja ganz anders«, sagt Manne und winkt lächelnd ab. Gregor Gysi lockt Tausende von Studenten an. Audimax, Flure und selbst Treppenhäuser sind voll. Zum Beginn der Veranstaltung herrscht eher Ruhe, Buhrufe ertönen hier und da. »Dann legte Gregor los und nach einer Stunde haben sich die jungen Leute gar nicht mehr eingekriegt. Die sprangen auf und klatschten wie verrückt und wollten ihn gar nicht mehr weg lassen. Auf dem Heimweg fragt der Chef seinen Fahrer: »Na Manne, das war doch ganz gut, oder?« Und der sagt nur: »Du warst großartig!« In solchen Momenten, wenn alle Anspannung von ihm abfällt, weiß Manne Koll, was sein Chef braucht: Streicheleinheiten!

Nun ist Manne Koll 65 geworden und wird das Lenkrad nicht mehr drehen, zumindest nicht täglich. »Mit meiner Lebenspartnerin will ich mal nach Skandinavien oder Frankreich fahren, da waren wir noch nicht. Ansonsten kümmere ich mich um die Blumen im Garten und fotografiere viel«, berichtet Manne über seine weitere Lebensplanung. Bis zum Jahresende fährt er seinen Fraktionsvorsitzenden noch. »Ich wollte ja mit dem 65. Geburtstag aufhören, aber Gregor bat mich, ihn noch bis zum Jahresende zu fahre. ›Na klar, Gregor‹, hab ich gesagt.«
Ja und dann? Ein Rentneralltag, so ganz ohne seinen Chef? »Gregor wird mir
bestimmt fehlen. Ich hoffe, ich ihm auch. Für mich ist er ein richtiger Freund.«