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Ein vergiftetes Angebot

erschienen in Clara, Ausgabe 35,

Die SPD will sich dank Mindestlohn wieder als Partei der abhängig Beschäftigten präsentieren – doch ausgerechnet in den eigenen Betrieben werden Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Als im Sommer 2014 Bundestag und Bundesrat die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 beschlossen, feierte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) dies als "Durchbruch, der endlich Klarheit schafft". Für einen bitteren Beigeschmack sorgen allerdings viele Ausnahmeregelungen, die Millionen Erwerbstätigen vorerst einen Anspruch auf den vollen Stundensatz von 8,50 Euro verweigern. Unter anderem hat die Lobby der Zeitungsverleger für ihre Branche eine Sonderregelung durchgedrückt. Demnach kommt für die Zeitungszustellung der volle Mindestlohn von 8,50 Euro erst im Jahr 2017. Für die Jahre 2015 und 2016 gelten Abschläge von 25 beziehungsweise 15 Prozent.   Ein Arbeitgeber, der sich scheinbar positiv von dieser "Extrawurst" abhebt, ist die Neue Westfälische (NW) mit Sitz in Bielefeld, bundesweit der einzige Zeitungsverlag, an dem die traditionsreiche SPD-Medienholding ddvg mit 57,5 Prozent noch eine Anteilsmehrheit hält. Kurz vor Weihnachten sorgte die Zeitung bundesweit für Aufsehen. Im eigenen Blatt verkündete deren Geschäftsführer und SPD-Mitglied Klaus Schrotthofer stolz: "NW zahlt vollen Mindestlohn für Zusteller." Man "mache keinen Gebrauch" von der gesetzlichen Ausnahmeregelung, die die Lobby der Zeitungsverleger für ihre Branche durchgesetzt hatte. Man habe, so der Geschäftsführer, drei neue Zustellungsgesellschaften gegründet, in denen 8,50 Euro Mindestlohn gezahlt werde. Schrotthofers Bekenntnis zum Mindestlohn gefiel fünf SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem NW-Verbreitungsgebiet so sehr, dass sie den Medienkonzern in einer gemeinsamen Erklärung für diese "positive Entwicklung" ausdrücklich lobten.    Doch diese "positive Entwicklung" ist bei genauem Hinschauen ein Meisterstück der Täuschung. Der Grund: Die Arbeitsbedingungen für die Zusteller sind in der bisherigen NW-Zustellgesellschaft, der Vertriebsfirma NW Logistik, deutlich besser als in den drei neu gegründeten Tochterfirmen NW Medien-Service Nord, Mitte und Süd. Und das, obwohl es unter den bisher rund 1.100 Beschäftigten der NW Logistik, die Nacht für Nacht die NW-Lokalausgaben und andere Zeitungen in die Briefkästen stecken, zwei unterschiedliche Vertragsgruppen gibt. Rund 40 Prozent der Mitarbeiter haben Stundenlöhne zwischen 10 und 13 Euro, sechs Wochen Jahresurlaub und 40 Prozent Weihnachtsgeld. Die anderen 60 Prozent erhalten rund 20 Prozent niedrigere Löhne und nur vier Wochen Jahresurlaub.   Weniger Lohn, kein Weihnachtsgeld   Mit genau diesen – vom Verlag selbst geschaffenen – Unterschieden in der Bezahlung macht der Verlag nun Stimmung unter den Mitarbeitern, lockt sie in die drei neuen Tochterfirmen mit dem Angebot einer "fairen, transparenten und gerechten Vergütungsstruktur" und wirbt dafür in Flugblättern und Stellenanzeigen.   Dass es sich dabei um ein "vergiftetes Angebot" handelt, darin ist sich Hans-Dietmar Hölscher (64) sicher. Er selbst gehört zu den rund 60 Prozent "Zustellern zweiter Klasse" in der NW Logistik, die das NW-Management vor allem mit fünf statt bisher vier Wochen Urlaub zu einem Wechsel ködern will. Aber anstatt auf die billige Propaganda des SPD-Verlags reinzufallen, warfen er und andere Betriebsräte einen genauen Blick auf die neuen angebotenen Arbeitsverträge und entdeckten viele Fallstricke.   Das Gesamtpaket bringt gegenüber der NW Logistik satten Lohnverlust und schlechtere Bedingungen. Weihnachtsgeld entfällt, ein neuer Zuschnitt der Zustellbezirke drückt viele Beschäftigte unter die Minijob-Marke von 450 Euro Monatslohn und damit aus der Sozialversicherungspflicht. Soll-Arbeitszeiten als Grundlage für 8,50 Euro Stundenlohn werden nach Gutsherrenart von oben verordnet, die knappen Vorgaben sind im Alltag kaum zu schaffen. Denn als Grundlage für die Arbeitsstundenberechnungen der Bezirke dienen nach ver.di-Angaben Daten, die im Sommer tagsüber mit Studenten und zum Teil mit Tretrollern erfasst wurden. Wer in eine Tochter wechselt, verliert Ansprüche aus NW-Logistik-Betriebsvereinbarungen und fängt mit neuer Probezeit und kürzerer Kündigungsfrist von vorne an.   Dem nicht genug. Hans-Dietmar Hölscher hat noch eine ganz andere Befürchtung: Das Ausbluten der ungeliebten Tochter NW Logistik durch den Konzern. Zwar behauptet dieser in offiziellen Stellungnahmen, jeder der derzeit 1.100 Zusteller könne freiwillig von der bestehenden in eine der drei neuen Gesellschaften wechseln. Niemand müsse jedoch wechseln. Wer in seiner alten Firma bleiben wolle, könne dies tun. Hans-Dietmar Hölscher weiß allerdings aus Gesprächen mit Beschäftigten: "Um ›nachzuhelfen‹, wird derzeit vielen nahegelegt, in eine der Töchter zu wechseln."   Doch die NW-Verlagsgruppe könnte ihrer alten Vertriebstochter nicht nur massenhaft die Mitarbeiter entziehen, sondern auch die Aufträge. Dann wäre die NW Logistik mit ihren besseren Arbeitsbedingungen irgendwann Geschichte – genauso wie der widerständige Betriebsrat, dem Hölscher angehört.    Dass der Betriebsrat die Information der Belegschaft über die "vergifteten Angebote" ernst nimmt, ist der Verlagsspitze offenbar ein Dorn im Auge. So bremste der Geschäftsführer den Postversand eines Betriebsratsbriefs an die Belegschaft kurzerhand aus. Weil die Interessenvertreter und Gewerkschafter all dies nicht hinnehmen, beschäftigten die Konflikte Anwälte und Gerichte.    Dass sich der Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen noch lange hinziehen dürfte, ist Hölscher bewusst. Die nötige Kraft und Ausdauer bringen er und seine Kolleginnen und Kollegen wohl mit. Er befürchtet, dass die Salamitaktik der NW-Manager weitergeht. "Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Löhne in Verlag und Druckhaus unter Druck geraten und die Tarifverträge infrage gestellt werden." Aber das schreckt einen wie Hans-Dietmar Hölscher nicht ab. "Wer nicht kämpft, hat von vorneherein verloren", ist er überzeugt.