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Die Würde jedes Einzelnen ist unantastbar. Auch in der Pflege

erschienen in Clara, Ausgabe 46,

Hamburg, Rathausplatz, am 24. März 2018, die Uhrzeiger stehen auf 5 vor 12. Arnold Schnittger nimmt die beiden Griffe des Rollstuhls fest in seine Hände. Er will los, nach Berlin laufen, zu Fuß, etappenweise, zusammen mit seinem Sohn Nico. Nico ist 23 Jahre alt, seit seiner Geburt mehrfach schwerstbehindert, und Arnold Schnittger pflegt ihn seitdem. Freiwillig, gern und bis auf wenige Stunden am Tag auch allein zu Hause. Dafür gab er seinen Beruf auf, landete im Hartz-IV-Bezug, inzwischen bekommt er Rente. Die Grundsicherung. Mehr hat er »nicht verdient«. Schnittger will, dass das aufhört. Menschen, die pflegen, »dürfen nicht auf der untersten finanziellen Stufe landen«, sagt er. Dafür will er auf Schusters Rappen und öffentlichkeitswirksam zum CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn laufen. »Herr Spahn, wir müssen reden!«, schrieb er ihm.

Arnold Schnittger pflegt seinen Sohn zu Hause, weil er ihn nicht ins Heim geben wollte. Schon nicht als Kind und auch jetzt als Erwachsenen nicht. Ins Pflegeheim wollen übrigens die wenigsten Deutschen. Neun von zehn der heute über 50-Jährigen gaben an, dass sie später im Alter zu Hause gepflegt werden möchten. Bei Pflegestufe 2 zahlt der Staat für die Heimpflege einen monatlichen Zuschuss von 770 Euro, für die Betreuung zu Hause gibt es dagegen für denselben Pflegegrad nur 316 Euro. Bei solch einer Summe müssen sich Angehörige das Pflegen in den eigenen vier Wänden also finanziell leisten können, sich genau durchrechnen, ob sie im Job kürzer treten oder ihn ganz aufgeben wollen. Ende 2017, so die vorläufige Zahl aus dem Bundesgesundheitsministerium, gab es rund 3,3 Millionen pflegebedürftige Menschen. Zwei Drittel davon wurden daheim betreut, mehrheitlich allein von Angehörigen. Und etwas über 690.000 nahmen einen der bundesweit über 13.000 ambulanten Pflegedienste in Anspruch.

Treppauf, Treppab

Christine Knabe arbeitet in der häuslichen Pflege. Seit fast zwanzig Jahren fährt sie in Berlin-Lichtenberg von Haus zu Haus, versorgt pro Schicht zwischen 20 und 25 Patientinnen und Patienten. Sie wechselt Verbände, versorgt Wunden, misst Blutdruck und Blutzucker, spritzt Insulin, bereitet das Frühstück, kümmert sich um die Körperpflege. Was sie nie hat, so die gelernte Krankenschwester, sei Zeit. »Zeit für Zuwendung«, die Pflege unbedingt braucht, aber »kein Pflegekatalog vorsieht«. Auch Christine Knabe hatte sich mit einem Brandbrief an das Bundeskanzleramt und an sämtliche Bundestagsfraktionen gewandt. Schon vor der Bundestagswahl im September 2017. Eine Antwort erhielt sie nicht: weder von Angela Merkel noch von CDU, SPD, Grünen und FDP. Nur Pia Zimmermann, die pflegepolitische Sprecherin der Fraktion DIELINKE, lud sie zu einem Gespräch ein. Dazu brachte die Pflegerin eine an die Politik gerichtete Wunschliste mit. Umzusetzen sofort! Beispielsweise ein monatliches Nettogehalt von mindestens 2.500 bis 3.000 Euro, eine Gehaltsstaffelung nach Qualifikation und Dienstjahren und die Chance auf »soziale Pflege«. Denn Pflege, so Christine Knabe, sei mehr als nur »satt und sauber«.

Nach einer im Januar 2018 veröffentlichen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verdient eine Pflegerin in Vollzeit durchschnittlich 2.621 Euro brutto im Monat. Davon gehen noch Kranken- und Pflegeversicherung ab, die Lohnsteuer, auch Arbeitslosenversicherung. Altenpflegehelferinnen und -helfer verdienen durchschnittlich sogar nur 1.870 Euro brutto. Wie vergütet wird, entscheiden die jeweiligen Bundesländer. In Baden-Württemberg bekommen Fachkräfte in der Altenpflege knapp 3.000 Euro Monatslohn, in Sachsen-Anhalt dagegen nur knapp 2.000 Euro. Das sind erhebliche finanzielle Unterschiede. Ungerecht dazu. Denn die fachgerechte Pflege in Mecklenburg-Vorpommern ist keine andere als die in Bayern. Und noch eine Zahl: Beschäftigte in der Altenpflege verdienen 16 Prozent weniger als der Durchschnitt aller anderen Beschäftigten.

Gute Pflege geht, wenn Politik es will

Berlin, Mitte April, im Bundestag tagt der Ausschuss für Gesundheit. Als Einzelsachverständiger nimmt auch Alexander Jorde daran teil. Er wurde gemeinsam von den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE eingeladen. Alexander Jorde ist 21 Jahre alt und der junge Pfleger aus Hildesheim, der bei einer öffentlichen Fernsehwahlsendung des NDR im vergangenen Jahr Kanzlerin Angela Merkel sprachlos werden ließ. Er schilderte dort eindringlich seinen Pflegealltag als Azubi und fragte, warum sie in den vergangenen zwölf Jahren den Pflegenotstand nicht verhindert habe. Danach wurde Jorde fast so etwas wie ein »Medienstar«. Das sei für »ihn als Person nicht wichtig«. Wichtig ist, dass »Pflege als gesellschaftliches Thema anerkannt wird«, sagt er. Im nächsten Jahr wird Alexander Jorde sein Examen als Krankenpfleger machen. Als seine Ausbildung begann, waren sie insgesamt 20 Auszubildende, 15 Frauen, 5 Männer. Geblieben sind davon nur 16, davon 3 Männer. Im alltäglichen Pflegestress, so Alexander Jorde, werden sie »nicht als Lernende, sondern als Arbeitende« wahrgenommen. Sie müssen einspringen, wo immer sich personelle Lücken ergeben. Darunter leidet auch die Ausbildung. Dass es anders geht, hat er in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in Norwegen persönlich erlebt. »Mehr Personal, mehr Zeit, mehr Zuwendung ist möglich, wenn Politik es will.«

Eine gute Woche vor der Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags hatte Arnold Schnittger Berlin-Mitte erreicht. Insgesamt 14 Tage und etwa 300 Kilometer war er unterwegs. Bei Wind und Wetter, auch bei Schnee und Minusgraden rund um die Ostertage. Nico, sein Sohn, war nicht immer dabei. In Berlin jedoch wurden beide bei strahlendem Aprilsonnenschein am Brandenburger Tor empfangen, und unweit davon, vor dem Bundesgesundheitsministerium, hatten Gewerkschafter von ver.di eine Kaffeetafel für Pflegende und zu Pflegende gedeckt. Für Jens Spahn war ein Stuhl namentlich reserviert. Er blieb leer.

Gisela Zimmer