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»Die verratenen Mütter«

erschienen in Lotta, Ausgabe 12,

Ein brilliantes Buch von Kristina Vaillant und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine solidarische Rentenversicherung.

Das Thema Rente sei zu Ihnen gekommen, sagen Sie. Wie denn?

Kristina Vaillant: Als ich mit meiner Kollegin an einem Buch über die Frauen der geburtenstarken 1960er Jahrgänge arbeitete, stellte ich fest, dass diese Frauen viel Energie in ihre Ausbildung gesteckt, sich aufgerieben hatten, um trotz Kind im Beruf zu bleiben, und doch das Gefühl hatten, beruflich nicht da angekommen zu sein, wo sie sich mal gesehen haben. Dann erschien Anfang 2012 die erste Studie über die Rentenerwartungen dieser Frauengeneration. Die belegte, dass 40 Prozent der Frauen im Westen und 20 Prozent in den neuen Bundesländern eine Rente von maximal 600 Euro erwarten. Und das, obwohl sie gut ausgebildet und zu 80 Prozent berufstätig sind. Plötzlich standen hinter dem Gefühl der Ernüchterung diese konkreten, ganz realen Zahlen.

Warum gibt es so eine krasse Benachteiligung in der Rente für Frauen, selbst wenn sie lange gearbeitet haben?

Frauen haben seltener eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung mit einem überdurchschnittlichen Lohn. Viele arbeiten in Berufen wie Erziehung und Pflege, die oft unterdurchschnittlich bezahlt werden. Oft sind es keine 30- oder 40-Stunden-Stellen, sondern Halbtagsstellen oder sogar Minijobs. Diese »atypischen« Beschäftigungsformen haben in den letzten 20 Jahren enorm zugenommen. Mittlerweile ist jede fünfte Stelle ein Minijob, bei jedem vierten Arbeitsplatz werden Stundenlöhne von maximal 10 Euro gezahlt. Teilzeitbeschäftigung suchen Frauen sich nicht unbedingt aus. Sie finden häufig keine andere Stelle. Das liegt unter anderem daran, dass das Arbeitsvolumen, also die Summe der Stunden, die in Deutschland gearbeitet wird, über Jahrzehnte geschrumpft ist und heute noch nicht wieder den Stand der frühen 1990er Jahre erreicht hat. Es sind aber viel mehr Frauen, insbesondere Frauen mit Kindern, auf den Arbeitsmarkt geströmt. Das heißt, eine größere Anzahl von Erwerbstätigen teilt sich einen gleich großen Kuchen an Arbeitsstunden. Die Rentenhöhe bemisst sich in Deutschland aber ausschließlich an der Höhe der Beiträge, die eingezahlt wurden. Bei Minijobs wird quasi gar kein Rentenanspruch erworben.

Frauen arbeiten trotzdem nachweislich mehr. Kindererziehung, Pflege, Familienarbeit – allerdings fast ohne Anerkennung für die Rente.

Es gibt Regelungen wie die »Mütterrente«, die Kindererziehungszeiten mit ein paar Punkten auf dem Rentenkonto honoriert. Das ist gut, aber das Wort »Mütterrente« ist irreführend. Denn natürlich kann von einer »Mütterrente« niemand leben. Eine Wissenschaftlerin hat ausgerechnet, dass Frauen der Babyboomer-Generation im Westen Deutschlands sieben Kinder bekommen müssten, um die 50-prozentige Rentenlücke gegenüber den gleichaltrigen Männern auszugleichen.

Es gibt immer wieder den Vorwurf, die Frauen suchen sich die falschen Jobs in den falschen Branchen. Sie seien also selbst schuld.

Man kann sich natürlich hinstellen und sagen, wir müssen das Problem niedriger Renten der Frauen am Arbeitsmarkt lösen, Frauen sollen in allen Branchen arbeiten. Ich bin auch dafür. Es löst das Problem der niedrigen Renten von Frauen heute aber nicht. In Frankreich gab es kürzlich einen Streikaufruf wegen der Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern. Dort sind es übrigens nur 15 Prozent und nicht wie bei uns 21. Die Frauen begründeten ihren Streik damit, dass sie, wenn der Fortschritt so weitergeht, 170 Jahre warten müssten, bis sie das gleiche Einkommen wie Männer haben. So lange will niemand warten, deshalb sollte man in der Rente schon jetzt für einen Ausgleich sorgen.

Wie reagieren Frauen bei Ihren Lesungen auf das Thema Rente?

Die Stimmung ist überraschend kämpferisch quer durch alle Generationen. Das freut mich. Von Jüngeren höre ich allerdings auch oft, sie erwarteten sowieso nichts von der Rente. Das ist schade, aber auch ein Ergebnis der Politik, die die gesetzliche Rentenversicherung zugunsten der privaten jahrelang schlechtgeredet hat – seit der Finanzkrise ist das vorbei. In meinem Buch werbe ich für die gesetzliche Rentenversicherung, ich halte sie für eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften. Man kann sie verbessern, aber das Prinzip ist gut – nämlich das Risiko, im Alter nicht mehr selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, auf viele Schultern zu verteilen und zu einer Gemeinschaftsaufgabe zu machen.

 

Das Gespräch führte Gisela Zimmer