Zum Hauptinhalt springen

Die Vermessung des Menschen

erschienen in Clara, Ausgabe 35,

Weshalb Konzerne und Geheimdienste uns oft besser kennen als wir selbst.

Taschenlampen gehören zu den aus der Mode gefallenen Geräten, die immer häufiger ersetzt werden durch Smartphones, die dank einer App für ebenso gute Beleuchtung sorgen. Dass eine Lampe aus dem Google App-Store nicht nur die unmittelbare Umgebung erhellte, sondern auch die Nutzerinnen und Nutzer durchleuchtete, wussten die wenigsten. Heimlich, illegal, aber systematisch wurden Aufenthaltsorte und Gerätenummern von bis zu 50 Millionen Nutzerinnen und Nutzern gespeichert und an Werbenetzwerke verkauft. Wer denkt, dass es sich hier um einen Einzelfall handelt, täuscht sich.    Supermarktkonzerne wie die US-amerikanische Kette Target brüsten sich damit, aus den Einkaufsgewohnheiten schließen zu können, welche Frau schwanger ist – um mittels Rabattcoupons zielgenau Reklame für Babykleidung, Schnuller und Feuchtcremes zu platzieren. Auch Smartphonehersteller wie Apple nutzen die Bewegungsdaten der Handynutzer und deren Profile für passgenaue Werbung.   Wer Gratisdienste nutzt, muss damit rechnen, dass seine Daten weiterverkauft werden. Doch längst handeln auch Konzerne, deren Produkte und Dienste teuer sind, mit den persönlichen Informationen ihrer Kundinnen und Kunden.   Der Buchhändler Amazon speichert, wer wann mit welchen Suchbegriffen nach welchen Büchern stöbert. Ausspioniert wird auf den digitalen Lesegeräten auch, wann und wie lange ein Buch gelesen wird. Der Versandhändler richtet dann seine Werbeangebote nach den individuellen Bedürfnissen der Kunden aus; die Verlagshäuser beziehen detaillierte Informationen über die Lesegewohnheiten.   Facebook weiß fast alles    Die Möglichkeiten, die gewonnenen Daten zu nutzen, enden jedoch nicht bei der persönlichen Ansprache in der Werbung. Der Taxidienst Uber hat sich jüngst gerühmt, anhand detaillierter Fahrgastdaten berechnen zu können, an welchen Tagen und in welchen Stadtteilen Menschen mutmaßlich besonders häufig One-Night-Stands haben. Und eine aktuelle Studie der Universitäten Stanford und Cambridge kommt zu dem Ergebnis, dass das Netzwerk Facebook aufgrund weniger hundert Likes die Persönlichkeitsmerkmale der Nutzerinnen und Nutzer präziser einschätzen kann als Kolleginnen, Familienmitglieder und sogar der Lebenspartner.   Das Lieblingsrestaurant, Hobbys, musikalische, sportliche oder sexuelle Präferenzen – all diese persönlichen, teils intimen Informationen besitzen für viele Konzerne einen Wert, weil sie Rückschlüsse auf Konsumgewohnheiten zulassen und so unter anderem gezielt Werbung ermöglichen. Diese Daten werden deshalb gehandelt wie Waren – und zwar nicht nur dann, wenn man für die Gegenleistung nichts zahlen muss. Und solange diese Daten für Unternehmen wertvoll sind, werden sie sie sammeln, auswerten, weiterverkaufen, um damit Profit zu machen.  Doch nicht nur globale Konzerne vermessen die Menschen. Niemals zuvor haben Geheimdienste die Bevölkerung dieses Planeten so umfangreich ausspioniert wie heute. Besonders gierig ist der US-amerikanische Geheimdienst NSA. Niemand, der elektronische Medien nutzt, scheint vor dieser Überwachung sicher.    Laut Medienberichten soll die NSA weltweit kontrollieren können, wer wann wie mit wem kommuniziert, und diese Informationen nahezu vollständig in den USA speichern. Die Agenten sollen zudem mehr als 100.000 Menschen in Echtzeit überwachen: Wenn sie ins Internet gehen, eine Mail versenden oder skypen, erfährt das der Geheimdienst sofort. Zudem soll der Geheimdienst diese Kommunikation live verfolgen und teilweise sogar manipulieren können. Einerseits kooperiert die NSA mit Internetkonzernen wie Yahoo, Google, Apple und AOL und greift von ihnen im großen Stil Kommunikationsdaten ab. Andererseits soll sie eng mit den Diensten anderer Staaten zusammenarbeiten, etwa mit dem Bundesnachrichtendienst (BND). So soll der BND für den amerikanischen Dienst den Internetknotenpunkt DE-CIX in Frankfurt am Main ausgespäht und die dort abgegriffenen Daten weitergeleitet haben.   Zwar wird offiziell nach wie vor behauptet, der BND habe dabei Bundesbürgerinnen und -bürger nicht massenhaft bespitzelt. Denn das ist verfassungswidrig. Geheime Akten, über die diverse Medien berichten, lassen jedoch schlussfolgern, dass der BND nicht unterscheiden kann, welche Daten von Deutschen stammen und welche nicht – und dass deshalb auch Daten von deutschen Staatsbürgern an die US-Geheimdienste übermittelt wurden.   Die Gier der Geheimdienste nach Daten kennt kaum eine Grenze. Je mehr man hat, desto mehr will man. Bereits heute soll der BND jeden Tag rund 220 Millionen Kommunikationsdaten speichern. Doch das reicht ihm nicht: Mit mehreren hundert Millionen Euro, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr bewilligt hat, soll die Überwachung von Blogs, Foren und sozialen Plattformen massiv ausgeweitet werden.    Geheimdienste und Konzerne – jeder für sich und häufig gemeinsam – arbeiten seit sehr Langem an der totalen Vermessung der Menschen.