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Die neue Wohnungsnot

erschienen in Clara, Ausgabe 24,

Seit acht Wochen sucht Alice Schürmann in Köln eine Wohnung. Bisher hat die 30-Jährige in der Kleinstadt Siegen gelebt. Nun hat sie eine neue Stelle als Sozialarbeiterin bei einer Behörde in der rund 100 Kilometer entfernten Rheinmetropole gefunden. »Ich dachte, meine Beschäftigung im öffentlichen Dienst mit Aussicht auf Verbeamtung würde mir bei der Wohnungssuche helfen. Das war ein Irrtum«, berichtet sie nach zahlrei-chen fehlgeschlagenen Versuchen, eine Wohnung anzumieten.

»Für unter zehn Euro pro Quadratmeter findet man in der Kölner Innenstadt nichts«, sagt Alice Schürmann. Die Mieten in Köln empfindet sie als »mindestens doppelt so hoch« wie in Siegen. Mittlerweile sucht sie mit einer Freundin zusammen nach einer Wohngemeinschaft. »Es wird immer üblicher, in WGs zu ziehen, weil die Mieten für eine Person zu hoch sind«, sagt sie. Bei der jüngsten Wohnungsbesichtigung in Köln-Ehrenfeld musste sie mit mehr als 230 anderen Menschen konkurrieren. »Es ist die Hölle«, klagt sie.

So wie Alice Schürmann geht es zurzeit vielen Menschen in Deutschland. In Großstädten und Ballungszentren herrscht Wohnungsnot, berichtet der Deutsche Mieterbund. Er hat berechnet, dass alleine in den zehn größten Städten 100 000 Mietwohnungen fehlen, davon 17 500 in Frankfurt am Main und 15 000 in Hamburg. Laut Mieterbund sind die Mietpreise in Städten mit mehr als einer halben Million Einwohnern im Jahr 2011 im Vergleich zum Vorjahr im Durchschnitt um 4,4 Prozent gestiegen.

Die Entwicklung am Wohnungsmarkt in Deutschland ist eng verknüpft mit der Deregulierung der Finanzmärkte. Mit dem Investmentmodernisierungsgesetz, das Anfang 2004 in Kraft trat, öffnete die damalige Bundesregierung aus SPD und Grünen auch den deutschen Immobilienmarkt für Hedge-Fonds, die mit spekulativen Anlagestrategien hohe Renditen erwirtschaften wollen. Ihnen gewährte die Regierung zudem umfangreiche Steuererleichterungen.

Kurz darauf setzte der Sturm der Investmentunternehmen auf den deutschen Immobilienmarkt ein. Mit geliehenem Geld kauften Fonds wie Blackstone, Cerberus und Fortress die Wohnungsbestände von Ländern und Kommunen auf, die unter notorisch leeren Kassen ächzten. Diese Investoren betrachten Mietwohnungen als Spekulationsobjekte, mit denen sich in kurzer Zeit viel Geld machen lässt: Solange die Mieteinnahmen höher sind als die Zinsen, die sie für ihre Kredite an Banken zahlen müssen, bleibt das Geschäft sicher und lukrativ.

Diese Fonds wirtschaften, teils systematisch, einst preisgünstige Mietwohnungen herunter. Erst sparen sie bei der Instandhaltung, dann werden die Wohnungen luxussaniert und als teure Eigentumswohnungen weiterverkauft. Anders als private Hausbesitzer wollen diese Investoren die Mietobjekte nicht langfristig bewirtschaften. Ihnen geht es darum, die Miete zu erhöhen und die Objekte möglichst schnell möglichst teuer weiterzuverkaufen.

Doch wenn Wohnungen als Ware gehandelt werden wie Wertpapiere und Aktien, entstehen rasch Probleme für Menschen mit durchschnittlichem und geringem Einkommen. Peu à peu müssen sie aus attraktiven Stadtteilen wegziehen oder finden dort keine bezahlbaren Wohnungen mehr. Dass in Deutschland seit Jahren die Reallöhne stagnieren, die Mieten aber steigen und so der Anteil der Mietkosten am Einkommen immer größer wird, verschärft diese Verdrängungsprozesse.

Verdrängt aus der vertrauten Umgebung fühlt sich auch Claudia Ohiogboan. Mehr als zehn Jahre lang hat sie im Graefekiez in Berlin-Kreuzberg gewohnt, in den vergangenen drei Jahren zahlte sie 273 Euro pro Monat für eine kleine Wohnung mit Kohleofen. Die Gegend ist ruhig, idyllisch, beinahe dörflich. Die 52-Jährige arbeitet in einem Bio-Laden gleich um die Ecke, ihr heute 13-jähriger Sohn ist im Kiez aufgewachsen. Im Frühjahr des vergangenen Jahres meldete sich plötzlich die Graefe-Quartier GbR, die neue Eigentümerin des Mehrfamilienhauses: Das Haus solle modernisiert werden, nach der Modernisierung werde die Miete auf 698 Euro erhöht.

Kurz darauf war das fünfstöckige Haus bereits eingerüstet, und Planen vor allen Fenstern verdunkelten die Wohnung. Genutzt wurde das Gerüst zunächst monatelang nicht. Erst viel später verwandelte sich das Haus in eine Baustelle. Im Herbst mussten die verbliebenen Mieter das Haus für ein paar Tage verlassen, während das Dachgeschoss ausgebaut wurde. Fortan regnete es monatelang in Frau Ohiogboans Küche. Das Wasser tropfte von der Decke, Feuchtigkeit griff um sich und fütterte den Schimmel. Mutter und Sohn blieb zum Schluss nur das Schlafzimmer übrig. »Man fühlt sich in seiner Existenz bedroht«, sagt sie.

Claudia Ohiogboan wehrte sich mehr als ein halbes Jahr lang. »Ich liebe meinen Stadtteil und wollte unbedingt hier wohnen bleiben«, sagt sie, »auch wegen meines Sohns, der in der Nachbarschaft viele Freunde hat.« Doch irgendwann hatte sie der Kampf um ihre Wohnung ausgelaugt. Im Februar dieses Jahres einigte sie sich schließlich mit den Eigentümern und zog aus. Für ihre neue Wohnung in einem anderen Stadtviertel zahlt Frau Ohiogboan nun 520 Euro warm im Monat.

Auch der Verkauf der städtischen Wohnungsgesellschaft WOBA Dresden illustriert, wie Immobilienkonzerne mit Mietern umspringen. Im Jahr 2006 hatte der Dresdener Stadtrat beschlossen, die rund 48 000 städtischen Wohnungen an den Investor Fortress zu verkaufen. Mit dem Verkauf entledigte sich die Stadt zwar auf einen Schlag aller Schulden. Doch viele Mieterinnen und Mieter hatten fortan mit steigenden Mieten, verlotternden Häusern und Schimmelbefall zu kämpfen.

Im vergangenen Jahr verklagte die Stadt Dresden das Immobilienunternehmen auf mehr als eine Milliarde Euro. Beim Verkauf einzelner Wohnungen seien die Interessen der Mieterinnen und Mieter nicht ausreichend berücksichtigt worden. Vor wenigen Wochen einigten sich die Streitparteien auf einen Vergleich: Die Stadt erhält 40 Millionen Euro, im Gegenzug werden alle Verfahren fallengelassen. Laut Presseberichten will der Finanzinvestor nun die verbliebenen rund 38 000 Dresdener Wohnungen weiterverkaufen.

Die aktuelle Finanzkrise hat den Boom am Immobilienmarkt nochmals befeuert. Dank historisch niedriger Zinsen der Europäischen Zentralbank schwimmen zahlreiche private Investoren in Geld. Wohnungsbestände deutscher Metropolen gelten als sichere Geldanlage. Die weltweit größte Immobilienagentur CBRE kalkuliert, dass in Deutschland der Umsatz beim Kauf und Verkauf von »großen Wohnpaketen und Wohnanlagen im Jahr 2011 gegenüber dem Vorjahr um 44 Prozent auf 6,12 Milliarden Euro« gestiegen ist.

Aktuell zählt Berlin zu den attraktivsten Wohnungsmärkten Europas. Laut CBRE befinden sich mittlerweile ein Drittel aller Wohnungen der Hauptstadt in der Hand großer Fonds. Einst besaß das Land Berlin 30 Prozent des Wohnungsbestands, heute sind es nur noch rund 14 Prozent. Laut den Analysten der Immobilienagentur Jones Lang LaSalle stiegen im vergangenen Jahr in der ganzen Stadt die Mieten bei Neuvermietung um durchschnittlich 9,3 Prozent, in den attraktivsten Stadtteilen explodierten die Preise förmlich. In Köln beobachtet Alice Schürmann, welche Auswirkungen solch rasante Mietsteigerungen haben. Als Sozialarbeiterin weiß sie, welche Konsequenzen sich daraus für Menschen ergeben, die von Hartz IV leben müssen. »Die meisten haben auf dem Wohnungsmarkt überhaupt keine Chance«, erzählt sie. Sie erlebt, dass auch immer mehr junge Menschen obdachlos werden, mal hier und mal dort übernachten, in Wohnheimen unterkommen oder auf der Straße leben müssen.

Wachsende Obdachlosigkeit existiert nicht nur in Köln. Schätzungen zufolge betrifft das in der Bundesrepublik fast eine viertel Million Menschen; etwa 22 000 müssen auf der Straße überleben. Sicher scheint, dass die Obdachlosigkeit in Deutschland zunimmt. Doch wie schnell sie wächst, weiß niemand genau.

Bei ihrer Wohnungssuche in Köln erlebt Alice Schürmann auch, dass arme Menschen vermehrt in die nördlichen und östlichen Stadtteile Chorweiler oder Kalk ziehen müssen. »Die Ghettoisierung schreitet voran«, fasst sie ihre Erfahrungen mit dem Kölner Wohnungsmarkt zusammen.

Der Mieterbund rechnet damit, dass in fünf Jahren 400 000 Wohnungen fehlen werden, wenn der Mietwohnungsbau nicht verdoppelt wird. Lukas Siebenkotten, Direktor des Deutschen Mieterbunds, fordert: »Wir brauchen eine Offensive für den Mietwohnungsbau, vor allem auch mehr Sozialwohnungen.«

Die aktuelle Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP ignoriert solche Forderungen. Sie hat die Mittel für Stadtbauförderung gekürzt und das Budget für das Programm »Soziale Stadt« zusammengestrichen. Und sie bevorteilt einseitig die Vermieter: Die Kosten für energetische Gebäudesanierung sollen Mieterinnen und Mieter tragen, zudem sollen Vermieter schneller kündigen und Wohnungsräumungen einfach vollstrecken dürfen.

Vermutlich wird sich die Situation in den deutschen Großstädten für Mieterinnen und Mieter weiter zuspitzen. Soeben wurde der größte Immobiliendeal seit Jahren abgeschlossen: Die PATRIZIA Immobilien AG hat mit Zustimmung der grün-roten Landesregierung in Stuttgart den Wohnungsbestand der Landesbank LBBW für 1,44 Milliarden Euro gekauft.
Ruben Lehnert