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Der Traum von Europa

erschienen in Clara, Ausgabe 12,

Armut ist politisches Versagen, sagt Lothar Bisky. Er will, dass die Menschen mitreden können, wenn es um ihre Angelegenheiten geht.

Mit Lothar Bisky ist es nicht einfach. 40 Studentinnen und Studenten der Europa-universität Viadrina Frankfurt/Oder sitzen in einem Raum im Reichstagsgebäude. Sie sitzen auf Stühlen, die in Reihen hintereinander aufgestellt sind. Vorn steht der Abgeordnete Bisky und ist erst einmal gezwungen, über alle Köpfe hinweg zu reden. Vielleicht hat sich das jemand im Bundestag genau so gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass darüber gar nicht nachgedacht wurde, ist allerdings größer. Lässt sich so Augenhöhe herstellen?

»Wie teilt sich unsere Lebenszeit«, fragt der Abgeordnete und erzählt vom Ablauf einer extrem gerasterten Sitzungswoche. »Der Arbeitstag hat viele Stunden. Man müsste alles genau anschauen, was auf den Tisch kommt, und das schafft man nicht.« Man sitze im Plenarsaal und höre zu und dort finde man eine ganz andere Welt vor als beispielsweise hier im Raum. »Im Plenarsaal stehen die Kameras, da reden die Leute anders. Es gibt Kameraprofis, die wissen, wie man gut rüberkommt.« Bisky redet davon, wie gut es dann tut, im brandenburgischen Wahlkreis unterwegs zu sein. Da müsse er sich zum Beispiel mit dem Weiterbau der Eisenbahnbrücke Woltersdorf befassen, der beschäftige die Leute. Und er, Bisky, nehme die Eisenbahnbrücke dann mit in die Politik und frage die Regierung, ob nun weitergebaut werde oder nicht. Ob das alles etwas bringe?

Politik ist kein Vergnügen

Er erklärt, dass Politik frustrierende Sisyphusarbeit sein kann. »Wir sagen in jeder Bundestagsdebatte, dass die soziale Schieflage beseitigt werden muss. Wir werden nicht müde, es zu sagen. Es ist kein Vergnügen, Politik zu machen. Für mich nicht. Aber was passiert, wenn man aufhört?« Die Frage lässt er unbeantwortet. Zwei Sekunden lang. Vierzig Menschen hören zu. Und wie zur Vergewisserung fragt eine Studentin. »Warum sind Sie Abgeordneter geworden, macht Ihnen das Spaß?«
»Ich war Rektor der besten Filmhochschule der Welt«, sagt Bisky und ein kleines Lachen macht sich im Raum breit. »Ich war das mit Leidenschaft, damals der einzige von Studenten gewählte Rektor. Am 4. November 1989 habe ich vor 500 000 Menschen auf dem Alexanderplatz gesprochen. Ich wollte, dass die Dinge sich ändern. Mir wurden die Knie weich, als ich da sagte, was ich sagen wollte. Ich mache schon lange Politik. Und manchmal finde ich, unerträglich lange.«

Mit Lothar Bisky ist es nicht einfach. Was soll man damit anfangen, dass einer sagt, Politik sei so wenig vergnüglich und trotzdem so wichtig? In diesen Räumen stehen meistens Leute vorn, die reden anders. Die Stuhlreihen animieren geradezu dazu, Wahlkampf zu machen. Denn nach dem Spiel ist immer vor dem Spiel. Im Bundestag sowieso.
Jetzt ist Wahlkampf. Lothar Bisky wird kämpfen. Für ein gutes Ergebnis seiner Partei bei den Bundestagswahlen und dafür, dass die Europäische Linke in Europa etwas zu sagen hat. Er tut dies auf seine Weise. Das hat ihm offensichtlich nie jemand ausreden können. Und es wird ein Grund dafür sein, dass die Europäische Linke (EL), ein Zusammenschluss von 30 Parteien aus 23 Ländern mit rund 400 000 Mitgliedern, Bisky im November 2007 zu ihrem Vorsitzenden wählte. »Ich möchte, dass die Zersplitterung aufhört und wir nach Gemeinsamkeiten suchen«, hatte er nach der Wahl gesagt. »Ich will, dass wir unsere Kräfte bündeln. Die Neoliberalen bündeln ihre auch. Und dem können Linke nur etwas entgegenhalten, wenn die Hauptforderungen in Rom, Berlin, Prag, Warschau oder Paris gleich lauten.«
2003, erzählt Lothar Bisky manchmal, als es der PDS wirklich schlecht ging, da habe er oft von Europa gesprochen. Europa war Licht am Ende des Tunnels. Wir sind nicht allein, habe er damals gedacht. Die Welt ist bunt.

Mehr direkte Demokratie wagen

Hier im Raum sagt er zu vierzig Studentinnen und Studenten, er vertraue auf die kulturelle Widerstandskraft vernünftiger Menschen. Dahinter steht etwas, das Lothar Bisky verteidigt, egal, wie die Dinge liegen: Die Menschen brauchen mehr Mitspracherechte. Das ist eine der Hauptforderungen der Europäischen Linken. Dazu kommen noch ein europaweit geltender gesetzlicher Mindestlohn, Abrüstung statt Aufrüstung und keine Militäreinsätze mehr, Referenden zu wichtigen Fragen, die viele Menschen betreffen. »Die Leute müssen das Gefühl haben, es ist ihr Europa. Die EL hat sich ein Wahlprogramm gegeben, das ist nur neun Seiten lang«, sagt Bisky. Und aus einer Stuhlreihe hört man, das sei für Linke richtig kurz. »Wir haben gelernt«, sagt Bisky später, auf diesen kleinen Einwurf angesprochen. »Man kann gemeinsam für Ziele eintreten und muss dafür nicht die ganze Welt erklären. Das haben wir gelernt. Offener zu sein.«
»Und zuzuhören«, schickt er nach. Das habe man auch gelernt, bei den Linken. Er erzählt von einer Reise nach Athen. Das war im Dezember vergangenen Jahres, kurz nach den Unruhen und Auseinandersetzungen in der griechischen Hauptstadt. Ein Kampf tobte zwischen der Staatsmacht und der Ohnmacht. Er habe beim Zuhören dort in Athen gelernt, sagt Bisky, dass die Jugendlichen denken: »Uns geht es schlechter als unseren Eltern. Wir haben weniger Zukunft als unsere Eltern. Wir werden mehr ausgebeutet, wir sind die Generation Praktikum, wir werden viel arbeiten und im Zweifelsfall trotzdem nicht unseren Lebensunterhalt mit der Arbeit verdienen können.« Das sei kein griechisches Problem, es gelte in anderen Ländern auch. In den neuen Bundesländern Deutschlands gebe es eine Abwanderung großen Ausmaßes. »Vor allem junge Frauen gehen. Junge Männer bleiben zurück. Das bringt Verwerfungen mit sich.«
Mindestlohn europaweit, sagt Bisky, sei natürlich nur die Forderung nach einem Mindeststandard, so wie wir auch in anderen Bereichen Mindeststandards forderten. Ein wichtiger Anfang. Er bedeute nicht, dass Träume verloren gingen. »Ein soziales und friedliches Europa, wie wir es haben wollen, ist immer ein Traum geblieben. Bis heute.«
Mit Lothar Bisky ist es nicht einfach. Er findet es gut, wenn die Linken nicht mehr mit fertigen, komplexen Weltbildern argumentieren. Wenn mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden. In Zeiten, in denen nichts so leicht zu haben ist wie Antworten, ist es schwierig, wenn jemand kommt und sagt: Lasst uns nachdenken. »Im 21. Jahrhundert, glaube ich, braucht man vier, fünf oder sechs Fragen, über die man gemeinsam streitet, um danach seine Kräfte bün-deln zu können. So können wir stark werden. Politische Mehrheiten sind inhaltliche Mehrheiten. Das allumfassende, alles erklärende Weltbild benötigt die moderne Linke nicht mehr. Es verleitet dazu, keine Fragen mehr zu stellen.«

Ein europäisches Deutschland

In dem Raum mit den exakt aufgebauten Stuhlreihen fragt ein Student, ob Lothar Bisky darauf hoffe, eines Tages aus der Oppositionsrolle rauszukommen. »Wir haben uns die hart und gut erarbeitet«, sagt Bisky mit einem Augenzwinkern. »Sie ist auf Bundesebene gut für uns.« Eine junge Frau will wissen, was einer wie Bisky unter sozialer Gerechtigkeit verstehe. So etwas Einfaches wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, antwortet der. »Alles andere ist zutiefst ungerecht. Wenn in den ostdeutschen Bundesländern immer noch weniger bezahlt wird als in den alten Bundesländern, dann gibt es dafür keine logische und schon gar keine gute Erklärung mehr.«
Lothar Bisky hat viele Hoffnungen. Von denen sich die meisten aus Überzeugung nähren. Er mutet sich und anderen lange Sätze und Argumentationen zu, um ihnen nahezubringen, wie wichtig es ist, ein europäisches Deutschland zu wollen. Weil man nur dann nicht Gefahr laufe, ein deutsches Europa zu bekommen. Diese Erkenntnis passt auf kein Wahlplakat. Aber ist das schlimm?