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„Da sagte ich mir: Gregor, nicht übertreiben“

Von Gregor Gysi, erschienen in Clara, Ausgabe 37,

Am 2. Oktober hielt Gregor Gysi im Parlament seine letzte Rede als Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE – anlässlich des 25. Jahrestags der Deutschen Einheit. clara dokumentiert Auszüge. 

„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute halte ich meine letzte Rede als Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag.   (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Zurufe von der CDU/CSU: Ah! – Heiterkeit bei der SPD)   Warten Sie! Los sind Sie mich noch nicht; denn ich bleibe ja im Bundestag.   (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Schade!)   Aber ich werde dann deutlich seltener und auch zu anderen Anlässen reden.   (Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Wir wissen gar nicht, ob wir uns freuen oder Mitleid haben sollen!)   Ich muss schon deshalb aufhören, weil ich jetzt länger eine Abgeordnetengruppe beziehungsweise eine Fraktion leite als Herbert Wehner oder Wolfgang Mischnick. Da sagte ich mir: Gregor, nicht übertreiben!   (Heiterkeit im ganzen Hause)   […] Die Einheit ist auch dank des Mutes vieler Ostdeutscher zustande gekommen. Die Vorteile für den Osten sind offenkundig: Es ist ein Gewinn an Freiheit und Demokratie. Nie wieder wird es eine Mauer in Deutschland geben. Wir haben eine funktionierende Wirtschaft, keine Mangelwirtschaft. Endlich hatten die Ostdeutschen eine frei konvertierbare Währung, die Deutsche Mark statt der Mark der DDR, das heißt eine Währung, die man weltweit einsetzen konnte. […]   Nun lassen Sie mich aber auch Kritisches sagen. […] Vieles musste überwunden werden, das steht fest, aber einiges hätte sinnvoll in ganz Deutschland eingeführt werden können. Wenn man eine Gleichstellung der Frauen will, auch bei der Erwerbsarbeit, dann muss es genügend Kindertagesstätten und Nachmittagsbetreuung an Schulen geben. Da Ferien länger dauern als der Urlaub der Eltern, muss es Schulferienspiele und Kindererholungseinrichtungen geben. […] Das gilt auch für Polikliniken, die wir jetzt Ärztehäuser nennen. […] Was aber noch wichtiger gewesen wäre: Die Westdeutschen würden mit der Vereinigung verbinden, dass in diesen Punkten ihre Lebensqualität gesteigert wurde. Das wäre doch viel positiver gewesen als die jetzige Einstellung.   Jetzt komme ich zu einigen Wünschen und Bitten, die über das hinausgehen, was ich eben in Bezug auf Ost/West schon gesagt habe. […] Wir haben eine geringe Wahlbeteiligung. Sozial Benachteiligte gehen nur noch zu 30 Prozent wählen. Sie überlegen sich, Wahllokale länger öffnen zu lassen. Das wird nicht helfen. Wir müssen die Demokratie attraktiver machen.    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)   Was halten Sie von einer dritten Stimme bei der Bundestagswahl, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Reihenfolge auf der Liste der Parteien verändern können?    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Haben wir doch längst!)   Nicht nur die direkt Gewählten, sondern auch die auf Listen Gewählten wären doppelt unterstellt: Sie müssten ihrer Partei so nahe sein, dass sie auf die Liste kommen, und sie müssten den Bürgerinnen und Bürgern so nah sein, dass ihr Name von ihnen auch angekreuzt wird.  Was halten Sie davon, dass jede Partei, die im Bundestag vertreten ist, anlässlich der Bundestagswahl eine Frage an die Bevölkerung stellen kann, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist? Das Bundesverfassungsgericht muss in einem kurzen Verfahren prüfen, ob sowohl die Antwort „Ja“ als auch die Antwort „Nein“ grundgesetzgemäß ist. Außerdem muss es Begrenzungen hinsichtlich der Bindungen des Bundeshaushalts geben, weil wir Linken sonst mit unserer Frage gleich zwei Bundeshaushalte auf einmal ausgeben würden. Das verstehe ich. Was halten Sie von einer Ergänzung unserer Debattenkultur? Bisher haben wir doch nur Reden. Wenn wir nur Reden haben, entscheidet man selbst, auf welche Argumente des Vorredners man eingeht oder nicht eingeht. Stellen Sie sich doch einmal vor, neben den Reden hätten wir eine Streitdebatte, zum Beispiel zehn Minuten lang ein Streitgespräch zwischen Kauder und Gysi, immer redet jeder je eine Minute: Ich kann seinen Argumenten nicht ausweichen, er kann meinen Argumenten nicht ausweichen. Glauben Sie mir, es würde hier sehr viel spannender werden, wenn wir solche Dinge im Bundestag einführen würden.   (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)   Der Ruf der Politikerinnen und Politiker in unserer Gesellschaft ist ziemlich schlecht.   (Mark Hauptmann (CDU/CSU): Dank Ihnen!)   Das hat viele Gründe. Aber die wichtige Arbeit der Mitglieder des Bundestages in den Ausschüssen kann die Öffentlichkeit nicht wahrnehmen. Ich verstehe, dass man dort kameragerechtes Verhalten verhindern will. Aber vielleicht kann man Ausschusssitzungen teils öffentlich, teils nichtöffentlich durchführen, damit die Bürgerinnen und Bürger wissen, wo Abgeordnete außerdem arbeiten und wie viel sie arbeiten. Auch die Fragestunde zur Politik der Bundesregierung muss meines Erachtens dringend kulturell belebt werden. […]    Die repräsentative Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass unterschiedliche Parteien unterschiedliche Interessen vertreten. Die meisten Linken haben begriffen, dass ein Bundestag ohne Union nicht gut wäre, weil dann bestimmte Interessen nicht mehr vertreten wären. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kleiner, auch deutlich kleiner, dürfen Sie schon werden, aber nicht fehlen. […]    Zum Schluss. Ich habe bisher die Abgeordneten nie als Kolleginnen beziehungsweise Kollegen begrüßt. Das wird Ihnen gar nicht aufgefallen sein. Das hängt mit den Diskriminierungen und Verletzungen zusammen, die ich erlebt habe, auch im Immunitätsausschuss. Die FDP hat bei mir immer einen kleinen Stein im Brett, und zwar, weil sie als Einzige nicht mitgemacht hat. Inzwischen werde ich aber auch mit Respekt behandelt. Nun muss auch ich mir einen Ruck geben. Deshalb sage ich Ihnen jetzt: Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen allen aufrichtig beste Gesundheit, schöne Erlebnisse, viel Glück und nur ein wenig vom Gegenteil, um nicht zu verlernen, Glück zu schätzen. Außerdem wünsche ich Ihnen allen größte politische Erfolge – natürlich nur insoweit, wie sie mit meinen politischen Sichten übereinstimmen.    (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)   Und da Sie für mich immer eine Herausforderung waren, was zweifellos zu meiner Entwicklung beigetragen hat, sage ich Ihnen auch: Danke.   (Anhaltender Beifall bei der LINKEN, Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)