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Bildungsmisere statt Bildungsrepublik

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

Die Bildungspolitik der Bundesregierung stellt junge Menschen vor große Probleme: zu wenige Studienplätze, Geldnot und zu großer Leistungsdruck.

Der absichtliche Sitzenbleiber

Der Oldenburger Gymnasiast Nick Frohne-Brinkmann blieb absichtlich sitzen. Grund ist das Turbo-Abi. 38 Schulstunden die Woche, dazu mindestens zwei Stunden Hausaufgaben täglich: Der 17-Jährige hielt in seinem ersten Abiturjahr eine enorme Arbeitsbelastung aus und hatte am Ende trotzdem nur einen Notendurchschnitt von 3,0. »Nach der zehnten Klasse wurde das Tempo wahnsinnig angezogen«, erinnert sich der Gymnasialschüler. Die Lehrer standen selbst unter Druck, hatten keine Zeit mehr, die Schüler individuell zu fördern. Schuld ist die Schulzeitverkürzung von 13 auf 12 Jahre, das sogenannte Turbo-Abitur. In kürzerer Zeit müssen die Schüler denselben Stoff wie vorher lernen. »Wer nicht mitkommt, bleibt auf der Strecke«, beschreibt der Gymnasiast seinen Schulalltag. Nick lernte damals so weiter wie in den Schuljahren zuvor, und trotzdem litten seine Noten. Bei vielen Mitschülern sah es ähnlich aus. Von ursprünglich 30, mit denen er die fünfte Klasse am Gymnasium begann, waren noch elf gemeinsam mit ihm im Abiturjahrgang.

Als Nick beschloss, sich ein Jahr mehr Zeit zu nehmen, unterstützten ihn seine Eltern und Lehrer. »Das Abitur in 12 Jahren ist völliger Quatsch«, sagt er rückblickend. »Ich will Zeit haben, das, was ich lerne, auch wirklich zu verstehen.«

Vom Hörsaal ins Callcenter

Friederike Benda studiert Jura in Potsdam. Neben dem zeitintensiven Studium jobbt die 24-Jährige dreimal die Woche im Callcenter. Ihre Eltern verdienen zu viel für BAföG und doch zu wenig, um die Tochter komplett zu finanzieren. Darum ist Friederike auf den 400-Euro-Job angewiesen. Ansonsten würde das Geld nicht mal ausreichen, um in der Mensa zu essen.

Im Callcenter geht es freundlich zu, unterschwellig laufen trotzdem Kontrollmechanismen ab. Die Beschäftigten müssen eine bestimmte Anzahl Telefonate pro Stunde schaffen. Gelingt das nicht, werden sie in Zukunft seltener eingesetzt. Das führt zu einem starken psychischen Druck. Oft sitzt Friederike vor ihrem Telefon und fragt sich: »Was mache ich hier eigentlich?« Die Arbeit hat nichts mit ihrem Studium zu tun. Friederike würde gern in einer Kanzlei jobben, dort aber geht man davon aus, dass Studierende unentgeltlich arbeiten. Immer mehr jungen Menschen geht es wie Friederike: Obwohl der Lernaufwand im Studium immer größer wird, arbeiten mittlerweile mehr als zwei Drittel aller Studierenden in Deutschland nebenher, Tendenz steigend.

Burn-out und Versagensangst

Studienzeit – so denken manche – ist Partyzeit, viel Freizeit. Die Realität ist oft anders, erzählt Michaela Holte, Psychotherapeutin in der Psychologischen Beratungsstelle des Berliner Studentenwerks: »Studierende kommen heute schon früh mit Überforderungsgefühlen, Burn-out-Symptomen und Versagensängsten.« Die eng gestrickten Stundenpläne erlauben es kaum, nebenbei zu arbeiten, dazu kommen der Karrieredruck und die Konkurrenz untereinander. In der kurzen Regelstudienzeit sollen die Studierenden neben Prüfungen und Hausarbeiten noch Praktika absolvieren, Auslandserfahrungen sammeln und sich wenn möglich noch ehrenamtlich engagieren. Die Folgen dieser enormen Anforderungen zeigt eine Studie der Techniker Krankenkasse:

Immer mehr Studierende nehmen

Medikamente, werden krank oder brechen das Studium ab. Die Einnahme von Psychopharmaka stieg in den letzten vier Jahren um 54 Prozent. Insbesondere bei den Migränemitteln, bei Antiepileptika, Schmerzmitteln und Antidepressiva sei ein massiver Anstieg zu verzeichnen. Allein im Berliner Studentenwerk bieten 13 Psychologinnen und Psychologen Hilfe für Studierende an. Die Beratung ist kostenfrei. »Jedes Problem ist willkommen«, lädt Michaela Holte ein.

Unfreiwilliges Studienende

Jakob Graf studiert seit zwei Jahren Politikwissenschaften und Ethik auf Lehramt. Vor Kurzem bekam er es schwarz auf weiß: Einen Masterplatz in Berlin wird er wohl nicht bekommen.

Per E-Mail riet der Dekan seines Fachbereichs ihm dringend dazu, das Nebenfach Ethik abzubrechen. Es gebe Probleme, genügend Masterplätze anzubieten. »Ich war entsetzt«, sagt Jakob, »dass die Studiengänge so unterfinanziert sind.« Um Lehrer zu werden, muss man aber unbedingt einen Masterplatz bekommen, sonst wird man nicht zum Referendariat zugelassen. Was also tun? Mit 24 Jahren noch mal aufs Neue mit dem Studium beginnen? Jakob wird weiterstudieren mit der Unsicherheit, wie es nach dem Bachelor weitergeht. Und er hat die E-Mail vom Dekanat über den Verteiler der Studierendenorganisation DIE LINKE.SDS verschickt. Mit der Notiz: »Wir brauchen einen neuen Bildungsstreik!«

So wie Jakob Graf geht es vielen Studierende. Nach dem Bachelor bekommen viele keinen Masterplatz, dafür fehlt das Geld. Das Ergebnis: Für jeden Dritten endet das Studium unfreiwillig nach dem Bachelor.