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Be careful!

erschienen in Lotta, Ausgabe 13,

Seit der Industrialisierung gilt Sorgearbeit – immer schon zur typischen Frauenaufgabe gemacht – als unproduktiv und wertlos. Zwar ist heute das geschlechtshierarchisch und arbeitsteilig organisierte wohlfahrtsstaatliche Sorgeregime ins Wanken geraten, aber es ist kein neues an seine Stelle getreten. Zeitnot gilt als der größte Alltagsstressfaktor, Sorge für andere und Selbstsorge werden prekär, Erschöpfung und Überlastung nehmen zu. Angesichts dieser gravierenden Engpässe und Bedrängnisse ist es umso erstaunlicher, dass an einer Normierung des Lebenslaufs nach dem alten Dreiphasen-Schema festgehalten wird. Dieses Schema wurde in der industriellen Gesellschaft für den typisch männlichen, für den kontinuierlichen und vollzeitigen Erwerbsverlauf mit der „sorgenden“ Frau im Hintergrund, konstruiert. Heute müssen stattdessen Erwerbsarbeit und Erwerbsverläufe im Rahmen eines neuen Care-Regimes neu mit Fürsorglichkeit in Beziehung gesetzt werden, und zwar unabhängig von traditionellen Geschlechterbildern. Wird die gesellschaftliche Bedeutung von Care endlich in ihrer Wertigkeit anerkannt und nicht mehr nur an Frauen delegiert, bedeutet dies, dass weder das Ernährer-, noch das Zuverdiener- und auch nicht das Vollzeit-Zweiverdienermodell zukunftsfähige Leitbildfunktion haben können. Vielmehr muss Zeit für Care gesellschaftlich neu organisiert werden. Dabei geht es darum, allen Beteiligten gleiche Verwirklichungs- und Teilhabechancen zu geben und zu ermöglichen, dass sie als Antwort auf die „Wechselfälle des Lebens“  zum richtigen Zeitpunkt im Lebenslauf über Zeit verfügen können. Es braucht einen welfare-mix mit einer gemeinsamen Verantwortung von Staat, Markt, Familie und Zivilgesellschaft für gute Care-Strukturen. Diese Dimensionen von Zeitwohlstand bilden das Geländer für eine Neukonstruktion von geschlechtergerechten „atmenden Lebensläufen“.

Mein Plädoyer: Abgelöst von den bisherigen Leitbildern der Normalbiografie soll  eine neue Norm und Normalität entstehen, in der beide Geschlechter ihren Erwerbsverlauf gemäß individuellen Care-Bedarfen unterbrechen  oder ihre Arbeitszeit für einen bestimmten Zeitraum reduzieren können. Sowohl Frauen als auch Männer sollen in ihrem Erwerbsverlauf Zeitanteile für familiale und gesellschaftliche Sorgeaufgaben, Weiterbildung und Selbstsorge aus einem garantierten Zeitbudget entnehmen und dies mit einer prinzipiell eigenständigen Existenzsicherung verknüpfen können. Dem besonderen Anliegen, Care-Arbeit im Lebenslauf abzusichern, wird dadurch entsprochen, dass es als festen Kern im Gesamtbudget zeitlich gebundene Anteile für Care geben soll sowie nichtgebundene Anteile für andere Tätigkeiten. Eine solche Zweckbindung hat mehrere Vorteile: Sie erhöht die gesellschaftliche Akzeptanz, sie öffnet Lebens- und  Teilhabechancen für unterschiedliche Gruppen und sie beugt durch die Verallgemeinerung der Norm „atmender Lebensläufe“ einer einseitigen Nutzung durch Frauen vor. Um ein konsistentes Gesamtkonzept selbstbestimmter Arbeitszeitgestaltung im Lebensverlauf zu entwickeln, bedarf es mehrerer Klärungen. Zum Beispiel, wie soll der Umfang des Gesamtbudgets aussehen? Fünf bis acht Jahre? Welche Finanzierungsmodalitäten sind möglich? Wie funktioniert die soziale Absicherung der Zeitbudgets? Welche Anreize für eine geschlechtergerechte Aufteilung von Sorgezeit für Väter und männliche Sorgepersonen gibt es? Und anderes mehr. Care-Zeiten  im Rahmen eines Gesamtkonzepts dann in Anspruch nehmen zu können, wenn sie gebraucht werden, hat große Vorteile gegenüber Einzelregelungen für so unterschiedliche Zwecke wie sie momentan für Elternzeit, Pflege oder Weiterbildung bestehen. Die Zeit ist reif ist für Modelle atmender Lebensläufe statt einem starrem Drei-Phasen-Modell mit weiblicher „Abweichung“. Gute und gerechte Care-Strukturen sind die Grundlage eines guten Lebens.

Karin Jurczyk leitet die Abteilung Familie und Familienpolitik beim Deutschen Jugendinstitut München und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik