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Auf den Schultern von Riesinnen

erschienen in Lotta, Ausgabe 13,

Sich zu erinnern ist gar nicht so einfach. Wann wurde ich eingeschult? Wie war der erste Kuss? Wie das erste Mal – oder wie war das noch mal mit den Jakobinern und den Girondisten in der Französischen Revolution? Die Schriftstellerin Christa Wolf schreibt zum Thema Gedächtnis in ihrem autobiografischen Werk „Kindheitserinnerungen“ Folgendes: „Gedächtnis. […]: ‚Bewahren des früher Erfahrenen und die Fähigkeit dazu.‘ Kein Organ also, sondern eine Tätigkeit und die Voraussetzung, sie auszuüben […]. Ein ungeübtes Gedächtnis geht verloren, ist nicht mehr vorhanden, löst sich in nichts auf, eine alarmierende Vorstellung.“ Dass das Erinnern also nicht wie ein Organ funktioniert, das alles, was geschieht, einfach aufsaugt, sehen wir vor allem dann, wenn wir unser kollektives Gedächtnis befragen. Hier wird schnell erkennbar, dass die Geschichte, die wir erinnern, viele blinde Flecken aufweist. Offensichtlich haben die Geschichtsschreiber sich nicht richtig erinnert oder sie wollten es nicht. Bleiben wir beim Beispiel der Französischen Revolution – Überwindung der Monarchie und Geburtsstunde der Menschen- und Bürgerrechte. Wir erinnern uns an Robespierre, Danton, Ludwig XVI. – vielleicht noch an Marie Antoinette. Aber welche Geschichtsbücher erzählen uns von Claire Lacombe oder Olympe de Gouges? Beide stehen  exemplarisch für eine Reihe von Frauen, die in den Wirren der Französischen Revolution nicht nur eine zentrale Rolle gespielt haben, sondern die – anders als die Männer – gleiche Rechte für alle Menschen einforderten. So war es Claire Lacombe, die den sogenannten „Brotmarsch nach Versailles“ anführte, bei dem sich mehrere Tausend Arbeiterinnen, Bäuerinnen und bürgerliche Frauen zum Schloss des Königs aufmachten, um ihn zur Rückkehr nach Paris zu zwingen. Ihre Forderungen: ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln und – dieser Punkt wird oft nicht erinnert – Unterzeichnung der Menschen- und Bürgerrechte und der Dekrete zur Abschaffung der Vormachtstellung des Adels. Der Druck der Frauen und die Ankündigung, noch weitere Zehntausende Aufständische folgen zu lassen, bewegten Ludwig XVI. dazu, ihren Forderungen nachzugeben. So wichtig dieser Marsch für den Verlauf der Französischen Revolution war, so wenig erinnern wir uns an die Namen ihrer Protagonistinnen. Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch jene Frau, die erkannte, dass die Menschen- und Bürgerrechte im Grunde nur die Rechte der Männer und Bürger meinten. Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“ war die eigentliche Menschenrechtserklärung, die für alle Rechte galt. Leider durften die Frauen an dieser Entscheidung nicht teilhaben – die Nationalversammlung war eine reine Männerveranstaltung, das Frauenwahlrecht gab es noch nicht. De Gouges wurde auf dem Schafott hingerichtet. Im Grunde erging es den Frauen der Russischen Revolution 130 Jahre später ähnlich. In den Jahren vor der Russischen Revolution machten sie einen nicht unerheblichen Teil in den Führungsriegen und den Bataillonen die Textilarbeiterinnen in Petrograd, die am Internationalen Frauentag 1917 zu einem der wichtigsten Streiks der Geschichte aufriefen. Die Gesetze, die die Bolschewiki nach der Revolution auf den Weg brachten, waren die fortschrittlichsten der ganzen Welt. Dazu gehörte die Einführung des Frauenwahlrechts, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Entkriminalisierung der Homosexualität oder die Förderung kostenloser Kindergärten und öffentlicher Wäschereien. Je autoritärer die Bolschewiki wurden, desto seltener übernahmen Frauen unter ihnen Führungspositionen. Von den vielen Frauen der Revolution werden nur wenige in der Geschichte erinnert. Alexandra Kollontai ist die einsame Ausnahme. In vielen anderen Ländern Europas und den USA kämpften Frauen lange Jahre für ihr Recht auf Mitbestimmung. Wer den Film „Suffragette“ kürzlich im Kino sah, konnte mitansehen, wie viel Kraft und Mut Frauen aufbrachten, um für ihre Rechte einzutreten – auch mit militanten Mitteln. Der Druck wurde so groß, dass ein Land nach dem anderen das Frauenwahlrecht einführte. Die sexuelle Revolution der 1960er und 1970er Jahre und die Verbindung von sozialen und Freiheitskämpfen wären ohne die Frauen in der Studierenden- und den neuen sozialen Bewegungen nicht denkbar gewesen. Es ist den Frauen dieser Zeit zu verdanken, dass der Feminismus es in die Studienzirkel der Studentinnen und später in die Wissenschaften schaffte. Sie warfen die alte Geschichte über den Haufen und füllten die weißen Flecken mit den Erinnerungen an all die Frauen, ohne die unsere Geschichte so nicht möglich gewesen wäre. Es ist die Aufgabe der heutigen Generation von Frauen (und Männern), diese Geschichte weiterzutragen, weiterzugraben und sie mitzunehmen in die aktuellen Kämpfe. Wir stehen eben nicht nur auf den Schultern von Riesen – wir stehen auch auf den Schultern von Riesinnen.

 Kerstin Wolter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin