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„Am Ende brannten Asylheime und Wohnhäuser“

Von Petra Pau, erschienen in Clara, Ausgabe 18,

Die Diskussion über Integration spaltet die Gesellschaft und lenkt ab von den eigentlichen Problemen, sagt die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Petra Pau, im Interview mit clara.

Wir erleben derzeit eine breite Zustimmung für die Thesen des Berliner Ex-Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD), eine Das-wird-man-doch-mal-sagen-dürfen-Kultur. Wie nehmen Sie das wahr?

Petra Pau: Einen Sarrazin, so widerlich das alles ist, könnte ich aushalten. Wirklich gestört hat mich, dass sämtliche Medien ihn und sein Buch berühmt gemacht haben. So wurde eine Debatte losgetreten, die spaltet. Das erinnert mich an die Jahre 1992/93. Damals wurde mit dem sogenannten Asylkompromiss de facto das Asylrecht abgeschafft. Am Ende brannten Asylheime und Wohnhäuser. Heute erklärt die CSU, Deutschland sei kein Einwanderungsland und man wolle keine Einwanderung von Muslimen. Sie ruft eine religiös begründete Leitkultur aus, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Das ist wirklich gefährlich, denn es spaltet die Gesellschaft.

 

Die nicht zum ersten Mal erhobene Forderung nach einer deutschen Leitkultur beinhaltet einen Alleinvertretungsanspruch. Wer dagegen ist, gehört nicht dazu.

Harald Wolf, Bürgermeister von Berlin, hat im Deutschen Bundestag für die Fraktion DIE LINKE zur aktuellen Debatte gesprochen und völlig zu Recht gesagt: Der größte Integrationsverweigerer in der Bundesrepublik ist der Staat. Der Staat verweigert vielen Menschen die Integration. Nicht nur Einwanderern, sondern auch denen, die arm sind, den sozial Schwachen.


Also ist die Leitkulturdebatte ein Ablenkungsmanöver?

Diese Diskussion lenkt ab von dem, was hier passiert: Hartz IV, Abschaffung des Elterngeldes, jetzt die Abschaffung der Reste eines solidarischen Gesundheitssystems. Es sind in diesem Jahr wieder Mittel für die Sprachkurse gekürzt worden, für die Bezahlung von Sprachlehrerinnen und -lehrern. Dabei gibt es große Wartelisten von integrationswilligen, sprachlernwilligen Migrantinnen und Migranten, die keinen Rechtsanspruch auf solche Kurse haben, da sie schon länger hier leben. Man muss über den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz reden, über die Frage, ob es uns gelingt, ausreichend Erzieherinnen und Erzieher auszubilden. Sodass kein Kind mehr in die Schule kommt, das nicht die deutsche Sprache beherrscht. Das ist die Diskussion, die wir brauchen, nicht eine über deutsche Leitkultur.

 

In Europa scheint es zu funktionieren, mit Hilfe eines ausgerufenen Kulturkampfes vom gleichzeitig betriebenen Sozialabbau abzulenken.

Wenn ich mir anschaue, was beispielsweise mit den Roma und Sinti in Italien, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn geschieht – das finde ich bedrückend. Auch weil auf europäischer Ebene nicht genügend Stopp-Zeichen durch die demokratischen Parteien gesetzt werden. Gegenwärtig werden in vielen Ländern soziale Auseinandersetzungen auf den Schultern der Schwächsten ausgetragen. Man sucht immer jemanden, auf dem man all das abladen kann. Aber es hilft nur, aufzuklären, sich laut und deutlich zu artikulieren.

 

Wird es eine neue rechte Partei geben, geführt von einer neuen geistigen Elite?

Es ist nicht so, dass der Rechtsextreme von vornherein dumm, faul und gefräßig ist. Es gab schon immer rechte Stichwortgeber. Die neue Rechte hat eine intellektuelle Unterfütterung. Ich beobachte da nicht nur einzelne Ausreißer. Der Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer, versucht nun, in die Fußstapfen von Franz Josef Strauß zu treten nach dem Motto: Rechts von uns darf es nichts geben. Es ist gefährlich, auf diese Art und Weise Vorurteile zu schüren und indirekt diejenigen, die bereit sind, das auch in die Tat umzusetzen, zu ermuntern. Die CSU integriert den Rechtsextremismus in sich selbst. Das ist gefährlich. Wegen eines kurzfristigen Wahlerfolgs oder für den Machterhalt darf man nicht die Demokratie aufs Spiel setzen!

 

Nichts scheint schwieriger zu sein, als die Mehrheitsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Die hat es doch nicht nötig, mit dem Finger auf sich selbst zu zeigen.

Das mag sein. Aber wir müssen uns klar machen, dass Integration von beiden Seiten erfordert, offen zu sein. Integration heißt auch Teilhabe. Es ist ein Widerspruch in sich, von denen, die kommen, etwas zu fordern und ihnen zugleich das Wahlrecht zu verweigern. Der Bundesinnenminister hat gesagt, 10 bis 15 Prozent der Migrantinnen und Migranten seien integrations-unwillig. Die Zahl ist zwar durch nichts belegt, sie bedeutet aber auch, dass 85 bis 90 Prozent dieser Menschen integrationswillig oder integriert sind! Hier wird also versucht, eine Minderheit in der Minderheit zu skandalisieren.

 

Hat DIE LINKE dem mehr entgegen-zusetzen als scharfe Verurteilungen?

Gerade wurde in Berlin das Integrations- und Partizipationsgesetz verabschiedet. Darin geht es nicht nur darum, Forderungen zu stellen, sondern darum, dass man Bedingungen für Teilhabe schafft. Dass man nicht über Migrantinnen und Migranten redet, sondern mit ihnen. Ich bin zum Beispiel stolz, dass mein Berliner Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf ein eigenes Integrationsprojekt ins Leben gerufen hat – parteiübergreifend unter der Leitung einer linken Bürgermeisterin beschlossen. Das ist gelebte Integrationsarbeit: Nicht zu skandalisieren, sondern darüber zu reden, wie wir miteinander leben wollen.

 

Die Bundesregierung beginnt, sich um die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen zu kümmern.

Ich begrüße das. So könnte sich die Lebenssituation vieler hochqualifizierter Menschen, die hier leben, verbessern. Es ist ein Skandal, was da an Ressourcen verschleudert wird! Ich war vor einem Jahr an einem Donnerstag in Charlottenburg in der Synagoge. Dort wurden Lebensmittel ausgegeben an bedürftige Jüdinnen und Juden. Fast alle sprachen russisch. Von denen, deren Arbeit es war, Lebensmittel zu verteilten, hatte einer einen Doktortitel, einer war Professor.

 

Was soll DIE LINKE tun?

Das Wichtigste ist erst einmal, die richtigen Fragen zu stellen. Wer Integrationsprobleme als Religionsprobleme verkauft, stellt die falschen. Es geht immer um die Frage sozialer und politischer Teilhabe. Dieser Religionsstreit, der jetzt hochgekocht wird, ist finsteres Mittelalter. Wir sind gut beraten, uns warnend einzumischen. Und gleichzeitig für die Wiederherstellung des Sozialstaats zu kämpfen. Und für die Demokratisierung der Demokratie. Das muss im Mittelpunkt unserer Politik stehen.

 

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Nehmen wir das Staatsbürgerschaftsrecht. Jetzt ist die erste Generation herangewachsen, die vor der Frage steht, ob man Deutsche oder Deutscher bleibt oder die Staatsbürgerschaft der Eltern annimmt. Das desintegriert und schafft für viele eine nicht auszuhaltende Entscheidungssituation. Doppelstaatlichkeit zuzulassen wäre das Signal an die Mehrheitsgesellschaft: Diese Menschen sind hier gewollt und nicht auf der Durchreise.

 

Es wird trotzdem Angst geben. Angst ist irrational und hört nur selten auf kluge Argumente.

In Zeiten grassierender sozialer Ängste suchen viele nach Ersatzschuldigen. Das ist so. Mal sind es die Sinti und Roma, dann Musliminnen und Muslime. Man muss an die Wurzel dieses Problems. Das sind die berechtigten sozialen Sorgen. Deswegen sagen wir: Hartz IV muss überwunden werden, wir brauchen einen Mindestlohn, von dem man leben kann, und es muss etwas gegen Altersarmut getan werden. Wir brauchen gleiche Bildungschancen für alle. So lassen sich Ängste nehmen. Und dann lässt sich eine rationale Debatte führen.

 

Petra Pau ist Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags