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Am 4. September 2009 um 1.49 Uhr fielen die Bomben

erschienen in Klar, Ausgabe 16,

Es ist der folgenreichste Militärangriff der Bundeswehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Auf deutschen Befehl hin sterben am 4. September 2009 in der Nähe von Kunduz bis zu 142 Menschen, darunter viele Kinder. In Klar sprechen erstmals Überlebende und Angehörige der Opfer der Bombennacht.

Kunduz, Afghanistan, am 4. September 2009. Es ist Mitternacht. Auf einer Sandbank im Kunduz-Fluss stecken zwei vermutlich von Taliban entführte Tanklastwagen fest. Aus den umliegenden Dörfern strömen Männer, Frauen und Kinder herbei. Einige tragen leere Kanister, sie hoffen auf kostenfreies Benzin. Andere lockt die Neugier. Von den Kampfflugzeugen, die im Anflug sind, ahnen sie nichts.
Auch Wazir Gul aus dem Dorf Isa Khel macht sich auf den Weg zur Sandbank. Nachbarn hatten ihm zuvor berichtet, es gebe dort Benzin. Wazir Gul erinnert sich im Gespräch mit den Bundestagsabgeordneten Jan van Aken und Christine Buchholz (DIE LINKE) in Kunduz: „Wir hatten kein Fahrzeug. Zu Fuß braucht man bis zur Sandbank eine Stunde, mit dem Fahrzeug zehn Minuten. Ich hatte zwei Kanister dabei. Schließlich haben Verwandte mich mit ihrem Fahrzeug mitgenommen. So kam ich dorthin.“
Nur wenige Kilometer entfernt, im Gefechtsstand des Bundeswehrlagers, sitzt Oberst Georg Klein. Er hatte Kampfflugzeuge angefordert, die mittlerweile über Wazir Gul und den anderen Menschen kreisen. Den Piloten soll Klein laut Spiegel zuvor „Troops in contact“ (Feindkontakt) gemeldet haben. Die Einsatzregeln in Afghanistan sehen vor, dass die US-Luftwaffe nur eingreift, wenn eine Feindberührung vorliegt.
Die Piloten der F-15-Bomber zweifeln. Mehrfach schlagen sie über Funk vor, die Menschenansammlung durch Tiefflug zu vertreiben. Die deutsche Führungsstelle unter Befehl von Oberst Klein soll abgelehnt haben. Die Amerikaner sind nervös. Sie wollen wissen, ob die Menschen auf der Sandbank eine „aktuelle Bedrohung“ darstellen - laut Nato-Regeln eine Voraussetzung für den Einsatz von Bomben. „Ja, diese Menschen stellen eine akute Bedrohung dar“, soll der Flugleitoffizier laut Spiegel behauptet haben. Es ist 1.48 Uhr.
Etwa zur selben Zeit ist Wazir Gul in der Menschenmenge auf der Sandbank. Er und sein Bruder sind mit dem Abfüllen der Kanister beschäftigt. Weit mehr als 100 Menschen drängeln sich um die Tanklaster. Sie schreien, streiten sich um das Benzin. Wazir Gul hört nicht die Kampfflieger, die mittlerweile ihre Bomben scharf machen. Sein erster Kanister ist jetzt voll. Um 1.49 Uhr schlagen zwei lasergesteuerte 500-Pfund-Bomben ein. Die Druckwelle schleudert Wazir Gul durch die Luft, sein Bauch reißt auf. Als er zu sich kommt, sieht er um sich herum ein Flammeninferno, aus seinem Bauch quillt der Darm heraus. Er rennt in den Fluss, rettet sich auf die andere Uferseite. Andere Dorfbewohner lesen Wazir Gul am Ufer auf, bringen ihn ins Krankenhaus nach Kunduz. Hinter sich lässt er die Feuerhölle, in der bis zu 142 Menschen sterben, darunter viele Kinder und sein Bruder.
Es ist der fatalste deutsche Militärangriff seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch noch am 6. November 2009 stuft Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) die „Luftschläge“ als „militärisch angemessen“ ein - obwohl ein Nato-Bericht laut Spiegel darlegen soll, dass die Bomben den Menschen galten, dass viele Zivilisten starben und Oberst Klein gelogen hatte.
Erst nach dem Rücktritt von Ex-Verteidigungsminister Jung (CDU) Ende November änderte Guttenberg seine Position: Vor dem Parlament erklärte er, der Angriff sei „militärisch nicht angemessen“ gewesen. Er sagt aber auch, Oberst Klein habe „nach bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt - ausgerechnet Klein, dessen Verhalten in der Bombennacht viele Fragen aufwirft.
Mit diesen und vielen weiteren Ungereimtheiten befasst sich nun ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. Dort muss sich Guttenberg rechtfertigen, ebenso wie Kanzlerin Merkel (CDU). Wie konnte dieser Einsatzbefehl gegeben werden? Haben Oberst Klein und andere gelogen? Und wenn ja, wer wusste davon? War die Bombardierung womöglich gar das Ergebnis einer veränderten, aggressiveren Strategie in Afghanistan? Dem Ausschuss liegen rund 100 Beweisanträge vor, 40 Zeugen sollen geladen werden.
Obwohl all das noch nicht geklärt ist, hat sich die Bundesregierung schon entschieden, noch mehr Soldaten zu schicken. Wazir Gul unterdessen kämpft mit seiner Familie ums Überleben. Bis zu dem Angriff haben er, sein Bruder und sein Vater von der Landwirtschaft gelebt. Sein Bruder ist tot, er selbst kann wegen der schweren Verletzungen nicht mehr arbeiten. Nun ist sein alter Vater der Einzige, der um das tägliche Brot kämpft.
Bis vor zwei Jahren, sagt Wazir Gul, habe er mit der Anwesenheit der Bundeswehr kein Problem gehabt. Mittlerweile aber habe der Einsatz dazu geführt, dass es immer mehr Aufständische gebe, immer mehr Menschen sterben würden, vor allem Zivilisten - so wie sein Bruder und viele andere Dorfbewohner. „Wir sind arme Menschen, alles was wir brauchen, ist Frieden“, sagt Wazir Gul.