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Als die Mauer fiel...

Von Annette Groth, Sigrid Hupach, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, erschienen in Clara, Ausgabe 33,

Nach wochenlangen Protesten durften die Bürgerinnen und Bürger der DDR am 9. November 1989 erstmals die Grenzen nach Westen passieren. 25 Jahre danach erinnern sich vier Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE an diesen Tag. 

Halina Wawzyniak ging im Herbst 1989 auf die Erweiterte Oberschule in Königs Wusterhausen. Heute ist sie netzpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE:   „Man darf sich nicht in die Tasche lügen: Ich war am 9. November 1989 gerade einmal 16 Jahre alt, ging in die Schule und habe abends in den Nachrichten zwar gesehen und gehört, dass eine Zeitenwende angebrochen ist. Wie das passieren konnte, habe ich nicht begriffen. Als es mir dann klar wurde, waren meine vorherrschenden Gefühle Skepsis und Angst. Schließlich habe ich an mein Land geglaubt und seiner Geschichtsschreibung und Gesellschaftsanalyse ebenso. Es war ein langer Prozess, die ideologischen Scheuklappen abzulegen und zu der Erkenntnis zu kommen, dass der real existierende Kapitalismus nicht erstrebenswert ist und der real existierende Sozialismus die Pervertierung einer guten Idee war. Und dass ein Land, das seine Menschen einsperrt und seine Kritiker drangsaliert, zu Recht untergegangen ist. Irgendwann habe ich mir von dem Begrüßungsgeld ein Paar weiße Turnschuhe gekauft, die schon nach drei Monaten kaputtgingen. So konnte ich gar nicht Gefahr laufen, den Verlockungen einer Überflussgesellschaft, die sich so viel Armut und Ungerechtigkeit leistet, zu erliegen.“   Kathrin Vogler studierte damals im westfälischen Münster, heute ist sie Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte der Fraktion DIE LINKE:   „Als in Berlin die Mauer fiel, war ich überrascht. Kurz vorher hatte ich noch einem Koreaner erklärt, die Wiedervereinigung seines Landes sei wohl ebenso eine Illusion wie die meines Landes. Wie man sich täuschen kann! Dabei wusste ich ja, dass es in der DDR brodelte. Im November 1989 wollte ich keine Vereinigung, denn es war zu spannend, was die Bürgerrechtsbewegung entwickelte. Ich beobachtete mitfiebernd, wie sich Runde Tische gründeten und die Menschen anfingen, ihren Staat neu zu erfinden. Der Verfassungsentwurf war bei aller Ähnlichkeit fortschrittlicher als das Grundgesetz: Neben individuellen Freiheitsrechten sollte es dort auch das Recht auf Arbeit, Wohnung und Gesundheitsversorgung sowie einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung geben. Das DDR-Zivildienstgesetz ohne Gewissensprüfung und mit gleicher Zivildienstdauer und ein Abrüstungsministerium hätten wir im Westen auch gern gehabt. Auch machte mir die nationale Besoffenheit Sorgen, die uns plötzlich überall entgegenwaberte. Aus dem emanzipatorischen ›Wir sind das Volk‹ wurde allzu schnell ein nationalistisches ›Wir sind ein Volk‹. Also gingen auch wir auf die Straße: Im Frühjahr 1990 demonstrierten Friedensbewegte und Linke unterschiedlicher Richtungen in der westfälischen Domstadt Münster unter dem Motto ›Wider die Vereinnahmung‹. Auf dieser Kundgebung hielt ich eine Rede.“    Annette Groth lebte damals in Nürnberg, heute ist sie menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE:   „Ich gehöre zu denjenigen, die von der Öffnung der Mauer erst am nächsten Tag erfahren haben. Eine Freundin überraschte mich mit dieser Mitteilung. Dann haben wir uns die Ereignisse der vorherigen Nacht mit großem Staunen im Fernsehen angeschaut, uns ins Auto gesetzt und sind an die von Nürnberg nicht weit entfernte Grenze gefahren. Innerhalb weniger Tage war die Innenstadt mit Besucherinnen und Besuchern aus der DDR überfüllt, die sich die vermeintlichen Reize der Kaufhäuser und Geschäfte anschauten. Kritische Stimmen und Hinweise, dass ›nicht alles Gold ist, was glänzt‹, wollten damals nur sehr wenige hören. Wir suchten Kontakte zu politisch aktiven Menschen, um Erfahrungen auszutauschen. Linke Utopien und Möglichkeiten waren nicht gerade gefragt. Ein paar Tage später machten wir uns auf den Weg, um bei Hof über die Grenze in die DDR zu fahren. Es waren Tage des Aufbruchs, der Hoffnungen und einer intensiven und breiten Diskussion über die Zukunft der DDR und der BRD. Bis heute beeindrucken mich diese Tage tief. Unsere vorsichtigen Versuche, auf Gefahren eines neuen deutschen Nationalismus hinzuweisen, konnten jedoch damals genauso wenig durchdringen wie heute im vereinten Deutschland Warnungen vor Nationalismus und Militarismus.“   Damals arbeitete Sigrid Hupach als kaufmännische Angestellte in Eichsfeld in Thüringen, heute ist sie kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE:   „Im November 1989 war ich 21 Jahre alt und lebte im Eichsfeld in Nordthüringen, nah der damaligen Grenze zu Westdeutschland. Die Ereignisse rund um die Montagsdemos, die Nikolaikirche in Leipzig sowie in den Botschaften in Ungarn und Tschechien habe ich mit Interesse beobachtet. Selbst aktiv war ich damals nicht. Am Abend des 9. November war ich mit einigen Freundinnen und Kollegen nach der Arbeit in der HO-Gaststätte Stadt Leinefelde. Wir verfolgten die Berichterstattung über die angebliche Öffnung der innerdeutschen Grenze. Nach einem Anruf bei der Volkspolizei in Worbis, die uns noch vor Mitternacht bestätigte, dass wir die Grenze passieren könnten, besuchten wir in dieser Nacht die Stadt Duderstadt in Südniedersachsen. Ich erinnere mich, wie wir ohne Wartezeiten die Grenze überschritten. Die Grenzposten fragten, ob wir ausreisen wollten. Wir verneinten und sagten, dass wir nur mal schauen wollten und in ein paar Stunden wieder zurückkommen würden. Trotzdem erhielten wir direkt neben unserem Passbild im Personalausweis, den ich bis heute aufhebe, einen Stempel. Später erfuhr ich, dass dies als ein Zeichen für ›Ausreisewillige‹ gelten sollte. Natürlich kamen wir in den frühen Morgenstunden zurück und gingen pünktlich zur Arbeit.“