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Abgeschoben in die Rente

erschienen in Clara, Ausgabe 30,

Hartz-IV-Beziehende werden gezwungen, ab dem 63. Lebensjahr in die vorgezogene Rente zu gehen. Machen sie es nicht, dann stellt das Jobcenter den Antrag auf Altersrente.

April 2013. Im Briefkasten von Heike Domhardt steckt ein Schreiben. Der Absender: das Jobcenter in Arnstadt, Thüringen. Sie wird aufgefordert, eine »vorrangige Altersrente« zu beantragen. Käme sie der »Antragstellung nicht umgehend nach« – so heißt es –, sei die zuständige Mitarbeiterin »berechtigt, den Antrag ersatzweise für sie zu stellen«.

Heike Domhardt ist 63 Jahre alt, Hartz-IV-Empfängerin. Gelernt hatte sie einst Handelskauffrau, ein Beruf vergleichbar mit der heutigen Bürokauffrau. Gebracht hat sie es bis zur ökonomischen Leiterin. Ihr Betrieb, ein Betonwerk, wurde bereits 1990 abgewickelt, Heike Domhardt und alle anderen weiblichen Beschäftigten gleich mit. Da war sie zum ersten Mal ohne Job, hörte aber nie auf, sich um neue Vollzeitstellen zu bewerben. Vom Arbeitsamt, von der Arbeitsagentur, vom Jobcenter – wie auch immer die Namen derselben Institution über die Jahre wechselten – bekam sie keine einzige Stelle angeboten. Jede Beschäftigung suchte und fand sie selbst: im Vertrieb, in der Werbung, als Vertriebsleiterin. Zehn Jahre ging das gut, dann kam auch hier für sie das Aus. Seither bestimmen Erwerbslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Hartz IV, immer gepaart mit unzähligen, schlecht bezahlten Nebenjobs, ihr Leben. Und jetzt soll die vorzeitige Rente mit lebenslangen finanziellen Einbußen folgen? Erzwungen per Gesetz! Heike Domhardt will das nicht einfach so hinnehmen. Sie will Arbeit, kein Altenteil mit hohen Abschlägen.

Zwangsverrentung – wie geht das?

Das wollte die Frau aus Thüringen auch wissen, fuhr nach Erfurt zu einer Wahlkampfveranstaltung mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und schilderte öffentlich ihren Fall. Steinbrücks ungläubige Gegenfrage: »Was, das können die tun?« Dabei hätte der SPD-Mann es besser wissen müssen. Denn die Möglichkeit zur Zwangsverrentung trat bereits 2008 in Kraft. Die schwarz-rote Koalition, in der Peer Steinbrück unter CDU-Kanzlerin Angela Merkel immerhin Finanzminister war, hatte die sogenannte 58er-Regelung nicht verlängert. Nach der konnten über 58-jährige Langzeiterwerbslose im Leistungsbezug von Hartz IV bleiben. Jetzt begann Paragraf 12a Sozialgesetzbuch II – besser bekannt als Hartz-IV-Gesetz – zu greifen. Dieser besagt, dass Frauen und Männer mit Arbeitslosengeld-II-Bezug auf vorrangige Leistungen verwiesen werden müssen. In der Rente bedeutet dies eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen zum frühestmöglichen Zeitpunkt, also mit 63 Jahren. Für die Betroffenen heißt das, sie werden selbst gegen ihren Willen in die frühe Altersrente geschickt, verschwinden lautlos aus der Arbeitslosenstatistik, erhalten keinerlei Jobangebote mehr und müssen lebenslang monatliche Rentenabschläge hinnehmen. Eine Ausmusterung von Menschen im arbeitsfähigen Alter, beschlossen zu einer Zeit, als dieselbe Große Koalition das Renteneintrittsalter längst auf 67 Jahre angehoben hatte, und im Widerspruch zur Zielstellung, mehr Ältere in Beschäftigung zu halten.

Rentengerechtigkeit sieht anders aus

Seit Jahresbeginn werden zunehmend Frauen und Männer vom Jobcenter aufgefordert, die vorgezogene Altersrente zu beantragen. Der Grund: Die oben beschriebenen Altfallregelungen liefen mit Jahresende 2012 aus. Damit entkamen bislang die Personen einer Zwangsverrentung, die vor dem Stichtag Silvester 2007 bereits 58 Jahre oder älter waren. Wer nun, seit Januar 2013, den 63. Geburtstag feiert und nicht in Lohn und Brot steht, bekommt vom Jobcenter automatisch die Aufforderung zur Frühverrentung. Wie viele Menschen genau davon betroffen sind, darüber gibt es keine Auskünfte. Im Mai dieses Jahres hatte Klaus Ernst, Leiter des Arbeitskreises Wirtschaft, Arbeit, Finanzen der Fraktion DIE LINKE, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales nachgefragt. Die Antwort: Die Bundesregierung wüsste es nicht. Weiß man es nicht, oder will man es nicht wissen? Heike Domhardt jedenfalls wird sich nicht freiwillig ins vorzeitige Altenteil abschieben lassen. Sie legte Widerspruch ein, und ihr Anwalt reichte eine Klage gegen die Zwangsverrentung ein. Auch DIE LINKE. im Bundestag wird sich mit der Zwangsverrentung nicht abfinden und erneut parlamentarisch dagegen aktiv werden.