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100 Jahre Frauenwahlrecht

erschienen in Lotta, Ausgabe 13,

Ende 1918 wurde Frauen zum ersten Mal das passive und aktive Wahlrecht verliehen. Im Januar 1919 wurden 37 Frauen in die Deutsche Nationalversammlung gewählt. Das entsprach damals einem Anteil von 9 Prozent. Kein unbeachtlicher Auftakt. Doch in den bald 100 Jahren, die folgten, konnte diese Quote nur um knapp 30 Prozent gesteigert werden. So gehörten dem 18. Deutschen Bundestag, der sich im Jahr 2013 konstituierte, nur 230 Frauen an – sprich 36,5 Prozent. Auf kommunaler Ebene sieht es sogar noch schlechter aus. Hier liegt der Frauenanteil im Durchschnitt bei 25 Prozent. Hauptamtliche Bürgermeisterinnen machen nur 4 Prozent aus. Stimmt es also, wie hier und da behauptet, dass Frauen schlicht weniger Interesse an Politik haben? Die Wahlbeteiligung spricht dagegen: So wird das damals hart erkämpfte Wahlrecht von Frauen heute nur unwesentlich weniger wahrgenommen als von Männern. Konkret gingen zur Bundestagswahl 2013 von den wahlberechtigten Frauen nur 0,5 Prozentpunkte weniger als von den wahlberechtigten Männern zu den Urnen. Der Gebrauch des aktiven und des passiven Wahlrechts fällt also deutlich auseinander. Woran liegt es, dass Frauen auch 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts sich noch immer nicht in gleichem Maße politisch betätigen? Gleiche Rechte sind die Ausgangsbedingung, aber sie führen eben nicht automatisch zu den gleichen Möglichkeiten, diese Rechte auch in Anspruch zu nehmen. Schon Clara Zetkin, die eine der prominentesten Kämpferinnen für das allgemeine Frauenwahlrecht war, verstand das aktive Wahlrecht als eine Möglichkeit zur Schulung. So forderte sie am 14. September 1902 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands auf ihrem Parteitag in München dazu auf, das Frauenstimmrecht in den Kämpfen wieder in den Vordergrund zu rücken. „Erst das Frauenstimmrecht fordert die Aufklärung und Organisation der Frauen heraus und ermöglicht ihre unbeschränkte Teilnahme am politischen und wirtschaftlichen Klassenkampf. Wir dürfen nicht auf dem Standpunkt stehen, die Frau sei noch nicht reif für das politische Stimmrecht. Das Stimmrecht ist nicht Zuckerbrot für politische Einsicht und Wohlverhalten, sondern Mittel zur politischen Erziehung und politischen Macht der Proletarierinnen.“ Mag dies zunächst instrumentell klingen, so steckt doch dahinter eben jene prozesshafte Vorstellung, dass das allgemeine Wahlrecht in einer parlamentarischen Demokratie ein notwendiges Mittel unter anderen ist, politisches Bewusstsein anzuregen, das auch die Demokratie selbst wieder verändern wird. In ähnlicher Weise sollten wir heute über das passive Wahlrecht nachdenken. Die letzten 100 Jahre haben gezeigt, dass hier mehr benötigt wird, als das bloße Recht, sich als Kandidatin aufstellen lassen zu können. Wir brauchen einen Kulturbruch in der männlich dominierten Parlamentsarbeit und ein paritätisches Wahlrecht, also eine paritätische Besetzung von Wahllisten und Wahlkreisen in Deutschland. Aber mit dieser Forderung müssen wir die Debatte darüber verbinden, was Frauen bisher davon abhält, sich zu beteiligen, und was wir aus den gegebenen Umständen entwickeln können, um ein solches Recht auch zur Anwendung zu bringen. Denn politische Arbeit in Parteien und Institutionen braucht Zeit und sie braucht einen selbstbewussten Umgang mit den männlich geprägten Strukturen. Häufig fehlt es Frauen an beidem. Die schlechtere Bezahlung von weiblicher Erwerbsarbeit und die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen neben der Erwerbsarbeit noch immer den Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgetätigkeiten zuweist, führen dazu, dass es überwiegend Frauen an eigenen ökonomischen und zeitlichen Ressourcen mangelt. Die damit zusammenhängenden sexistischen Stereotype und Vorurteile, mit denen Mädchen schon von früh auf konfrontiert werden, mindern häufig das Selbstvertrauen, sich in männlichen Strukturen gegen alle Widerstände zu behaupten. Die faktische Möglichkeit, sich in Parteien und Institutionen politisch einzubringen, ist damit deutlich eingeschränkt. Ein paritätisches Wahlrecht ist ein Mittel unter anderen, Frauen darin zu stärken, in den Parlamenten für ihre Rechte einzustehen, eine neue und solidarischere Politik zu verfolgen und dabei auch die Strukturen der Parteien und Institutionen selbst zu verändern. Es gilt, die parlamentarische Arena wieder stärker als wichtiges Feld der Auseinandersetzung verständlich zu machen, wobei der Zugang über das aktive und das passive Wahlrecht ermöglicht wird, das aber nicht darin aufgeht. Es ist nicht eine für sich alleinstehende Wahl, sondern es ist ein Prozess, um die Strukturen selbst zu verändern – sozial wie politisch.

Cornelia Möhring ist die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Der vollständige Text von Cornelia Möhring ist in „100 Jahre Frauenwahlrecht – Ziel erreicht! ... und wie weiter?“ zu lesen. Erschienen im Juni 2017, Verlag U. Helmer, 18,– Euro