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zur Beratung des Antrags: Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen

Rede von Ilja Seifert,

zu Protokoll

Ja, es gibt einen demografischen Wandel, aber auch diesem können weitere folgen, zum Beispiel, wenn die Zahl der Geburten wieder deutlich steigt. Ja, auch in einem weiteren Punkt stimmen wir überein: Man muss sich diesem Wandel auch im Tourismus stellen, ihn als Chance begreifen, statt ihn zu beklagen. Vieles in dem vorliegenden Antrag der Koalition ist nicht falsch. Aber solange Bundesregierung und Koalitionsfraktionen Tourismuspolitik nur betreiben, um einen großen, wichtigen und expandierenden Wirtschaftsbereich markt- und konkurrenzfähiger zu machen, wird sie falsche Akzente setzen.
Alle umwerben die sogenannten Best Agers, „Silberhaare“ und was es noch so für charmante Bezeichnungen für die über 50-Jährigen, solventen und reiselustigen Damen und Herren gibt. Das ist die Bevölkerungsgruppe, die oft reist und auch nicht wenig Geld dafür ausgibt. Die Tourismuswirtschaft stellt sich - völlig losgelöst und unabhängig von Ihrem Antrag - zunehmend darauf ein, die einen mehr und die anderen weniger erfolgreich. So ist es nun einmal in der Marktwirtschaft. Die Linke sieht in der Tourismuspolitik vor allem die Aufgabe, Reisen für alle zu ermöglichen, da Reisemöglichkeiten ein wichtiger Beitrag zur Erholung, Bildung und Gesundheit sind. Viele Menschen, auch Ältere, sind vom Reiseboom ausgeschlossen. Ihnen stehen viele Barrieren entgegen.
Eine Barriere ist das fehlende Einkommen, die zu geringe Rente, die wachsende Altersarmut. Es können eben nicht alle unbeschwert über das Reisen nachdenken, wie zwei Drittel der Gesellschaft. Zudem befinden wir uns mitten in einem Trend, der eine zunehmende Aufspaltung der Gesellschaft befördert. Die einen haben über Bildung und Arbeitsmöglichkeiten Zugang zu Einkommen und vielen kulturellen, wirtschaftlichen und auch touristischen Angeboten. Andere haben diesen Zugang nicht und auch kaum Aussichten auf Änderung. Diesen Trend zu stoppen und umzukehren, wird schwer. Aber wir müssen das erreichen!
Wir brauchen also Angebote für Menschen mit niedrigen Einkommen. Gruppen von über das Einkommen benachteiligten Menschen gibt es in allen Ländern der Erde. Interessant sind die verschiedenen Ansätze, die es von Land zu Land gibt, in diesem Bereich etwas zu tun. Hier lohnt der Blick in die westlichen Nachbarländer. Der dortige Sozialtourismus, zum Beispiel in Frankreich, schafft Reisemöglichkeiten für diese Menschen, und auch die Tourismuswirtschaft partizipiert davon. Auch Deutschland wäre gut beraten, endlich aktiv in der internationalen Organisation des Sozialtourismus mitzuwirken. Weitere Barrieren sind baulicher Art bei Hotels, Gaststätten, Kultureinrichtungen, im ÖPNV und der Infrastruktur. Ich finde es bezeichnend und unakzeptabel, dass zu Fragen des barrierefreien Tourismus in diesem Antrag der Koalition nichts steht. Wie kann man den demografischen Wandel als Chance nutzen wollen und die vielen Barrieren im Tourismus ausblenden? Hier geht es nicht um Sonderlösungen für ein paar Behinderte, sondern um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Meine Erfahrungen sind, dass Barrierefreiheit letztendlich vielen zugute kommt und zumindest niemanden stört. Rollstuhlgerechte Zugänge und Wege erfreuen auch ältere Menschen, Eltern mit Kinderwagen, Reisende mit schwerem Gepäck und selbst Kinder mit Drei- oder Laufrad und Jugendliche auf Skateboards. Ich weiß, dass nicht von einem Tag auf den anderen alle Gebäude, Wege und Verkehrsmittel umgebaut werden können. Ich sehe aber nicht ein, dass zum Beispiel für viel Geld nach wie vor ICE-Züge gebaut werden, in denen nur ein einziger Rollstuhlfahrer mitreisen kann. Ebensowenig ist einzusehen, dass in denkmalgeschützten Gebäuden die Schaffung von Barrierefreiheit ausgeschlossen sein soll. Moderne Heizungen und Toiletten, Strom, Brandschutzanlagen und Telefonleitungen passen schließlich auch in mittelalterliche Gebäude. Der Berliner Fernsehturm ist ein typisches Beispiel: Menschen mit einem Rollator, im Rollstuhl oder mit einem Blindenbegleithund dürfen auf dieses weltbekannte Berliner Wahrzeichen nicht hinauf. Der Berliner Behindertenverband hat deswegen für den 30. April um 11.00 Uhr zu einer Kundgebung am Berliner Fernsehturm „Wir wollen hinauf!“ aufgerufen. Ich unterstütze diese Aktion aus vollem Herzen und hoffe, dass dies auch andere Bundestagsabgeordnete aus allen Fraktionen tun. Die Telekom und deren Tochter, die Deutsche Funkturm GmbH, sind als Eigentümer gefordert. Wir sollten sie bei der Lösung dieser anspruchsvollen Aufgabe nicht allein lassen.
Es ist in meinen Augen Aktionismus, wenn die Koalition einen tourismuspolitischen Antrag nach dem anderen vorlegt, um bei den ohnehin boomenden Bereichen hinterherzuschwimmen. Erst der Kreuzschifffahrtstourismus, dann die Geschäftsreisenden und nun die Best Agers. Wir brauchen keine Schaufensteranträge, sondern fraktionsübergreifend und unter Mitwirkung eines Tourismusministers spürbare Maßnahmen, um allen Menschen den Zugang zu und die Nutzung von touristischen Angeboten zu ermöglichen. Sicher wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen in unserem Land kleiner, sicher sind weder Menschen mit Behinderungen noch Migrantinnen und Migranten die Mehrheit der Bevölkerung. Trotzdem ist gerade hier die Politik gefragt. An erster Stelle fordern Sie von der Bundesregierung „ein Leitbild für den Deutschlandtourismus unter besonderer Berücksichtigung der demographischen Entwicklung … zu erstellen“. Diese Forderung teilen wir, der Bundestag muss dazu aber andere Prämissen setzen, als Sie es tun.
Die Linke hat sich unter dem Titel: „Reisen für alle, für sozial gerechten, barrierefreien und ökologisch verantwortbaren Tourismus“ auf fünf Leitbilder verständigt, die wir gern in die Diskussion - auch um diesen Antrag - einbringen möchten. Für uns stehen im Mittelpunkt erstens das Recht auf Tourismus; zweitens die Rechte für die im Tourismusgewerbe Beschäftigten; drittens die Verbesserung der Barrierefreiheit; viertens die ökologische Verantwortbarkeit und fünftens der Tourismus im ländlichen Raum. Und: Wenn wir über Leitbilder diskutieren, sollten wir auch den Globalen Ethik-Kodex der Welttourismus-Organisation (UNWTO) sowie die zahlreichen programmatischen Angebote vom Deutschen Tourismusverband, von der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus - NatKo - und weiteren auf touristischem Gebiet tätigen Vereinen und Verbänden einbeziehen.