"Die Programme der Bundeszentrale für politische Bildung können dann nichts bewirken, wenn die Bundesregierung selbst keine grundrechtsorientierte Politik praktiziert, wenn Abgeordnete über deutsche Leitkultur schwadronieren, wenn sie Einwanderer und Flüchtlinge generell zur Bedrohung erklären und damit der Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten. Ulla Jelpke , innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE., in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 06 "Innen“."
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundestag mit deutlichen Worten ins Stammbuch geschrieben, dass der Gesetzgeber Grundrechte massiv verletzt hat, zum Beispiel durch das Luftsicherheitsgesetz, den Europäischen Haftbefehl und den großen Lauschangriff. Dennoch setzt diese Regierung ihre verfehlte Politik des Abbaus von Bürgerrechten konsequent fort. Das zeigt sich auch im Haushaltsentwurf des Innenministeriums: 70 Prozent der Gelder sind für Maßnahmen im Bereich der Sicherheit. Das bedeutet eindeutig eine weitere Stärkung des Repressionsapparates. Als zentrale Begründung dafür dient die Bekämpfung des Terrorismus, wie wir auch heute wieder gehört haben. In Wahrheit wird nicht mit realen Gefährdungslagen operiert, sondern Hysterie geschürt. (Beifall bei der LINKEN) Nehmen wir die heute stattfindende Konferenz zur Sicherheit bei der Fußballweltmeisterschaft: Statt den Menschen die Vorfreude auf dieses Großereignis zu vermitteln - Herr Schäuble, Ihre Einlassungen dazu haben mich auch heute nicht überzeugt -, erwecken Sie mit Ihrer ständigen Forderung nach einem Einsatz der Bundeswehr und dem beispiellosen Aufwand für Sicherheitsüberprüfungen eines jeden Würstchenverkäufers den Eindruck, als sei der Ausnahmezustand auszurufen. Das ist typisch für die deutsche Innenpolitik. Alles wird als gefährlich und bedrohlich bezeichnet. Als Lösung wird dann die Einschränkung der Grundrechte gefordert. Diesem Argumentationsmuster ist der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, am letzten Wochenende in einer Grundsatzrede auf dem Strafverteidigertag entgegengetreten. Er kritisierte, dass Sie zuerst die Furcht vor einem Verbrechen schüren, um sie dann zu bedienen. Somit bleibe die Verhältnismäßigkeit der Mittel auf der Strecke und Freiheitsrechte hätten keine Chance. - Damit hat der Verfassungsrichter die Politik der alten und der neuen Regierung präzise charakterisiert. Es ist eine Angstpolitik auf Kosten der Grundrechte. Dies lehnen wir entschieden ab. (Beifall bei der LINKEN) Werte Kolleginnen und Kollegen, die so genannten Antiterrormaßnahmen der letzten Jahre stellen selbst eine massive Gefährdung der rechtsstaatlichen Ordnung dar. Sie von der Koalition haben bisher nicht den geringsten Schritt unternommen, um dies zu ändern. Ich will das an einigen Beispielen erläutern: In Berlin wird das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum aufgebaut. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Gibt es schon!) Verschiedene Behörden - Polizei, Geheimdienste und sogar das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - arbeiten dort Hand in Hand zusammen und tauschen Daten aus. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr gut! - Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Gott sei Dank!) Herr Minister, kennen Sie eigentlich das Trennungsgebot unserer Verfassung? Aufgrund der Erfahrungen unserer Geschichte haben sich die Verfasser des Grundgesetzes für die strikte Trennung von Geheimdiensten und Polizei entschieden. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da nicht drin! Das war die Vorgabe der Alliierten!) Heute finden die CDU/CSU und sage und schreibe auch die SPD nichts mehr dabei, dieses bewährte Prinzip zu missachten. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Polizei ist in der Verfassung aber nicht angesprochen!) Es ist noch schlimmer: Der Innenminister wollte die klare Trennung zwischen Polizei und Militär aufheben. Herr Schäuble, ich habe heute natürlich zur Kenntnis genommen, dass Sie diese Forderung in der „Frankfurter Rundschau“ zurückgezogen haben. Ich erinnere das Haus aber daran, dass Herr Schäuble schon vor ein paar Jahren die Militarisierung nach innen gefordert hat. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Oh!) Für mich stellt sich die Frage, wann Sie den nächsten Anlass finden, um diese Fragen erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Werte Kollegen und Kolleginnen, für den Inlandsgeheimdienst sind Mittel im Haushalt eingestellt, aber man erfährt nicht, wofür genau. Damit wird in erster Linie eine Sicherheit vor der parlamentarischen Kontrolle geschaffen. (Zuruf von der SPD: Sicherheit vor eurer Beobachtung!) Bei der inneren Sicherheit hat der Verfassungsschutz eindeutig versagt, wie sich beispielsweise bei der Auseinandersetzung mit der NPD gezeigt hat. Nicht einmal das Verfassungsgericht konnte zum Schluss noch unterscheiden, ob in manchen NPD-Gremien mehr echte Parteimitglieder oder mehr Verfassungsschützer saßen. Deshalb ist das NPD-Verbotsverfahren kläglich gescheitert. Auf Verfassungsschutzmitarbeiter, die selber eine neofaschistische Politik betreiben, können wir gut verzichten. (Beifall bei der LINKEN) Das Beste wäre im Übrigen eh, die Behörde aufzulösen und die Gelder sinnvoller zu investieren. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Danke, da freuen sich die Nazis!) Ich will Ihnen auch sagen, wo man tatsächlich zum Schutz der Verfassung beitragen könnte. (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Frau Jelpke hat nichts dazugelernt!) Herr Körper, allein im vergangenen Jahr hat das Bundeskriminalamt 10 000 rechtsextremistische Straftaten gezählt. Jeden Tag schlagen Neonazis Andersdenkende, Andersaussehende und Homosexuelle zusammen und schaffen vielerorts ein Klima der Angst und Bedrohung. Es geht bis hin zu Tötungsdelikten. Gegenüber diesen realen Gefahren bleibt die Bundesregierung unverständlicherweise passiv. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: So ein Unfug!) Dass Sie jetzt sogar noch Anstalten machen, die Bundesprogramme zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zu kürzen, ist einfach nur noch absurd und zynisch. Das Gegenteil wäre richtig. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sie hätten gerade zuhören müssen!) Die Regierung will nun aber lieber dem so genannten Linksextremismus den Kampf ansagen. Bei Ihnen im Kabinett geht offenbar ein Gespenst um und Ihre Geisterjäger vom Verfassungsschutz haben jetzt nichts Besseres zu tun, als Mitglieder der Linksfraktion auf ihre schwarzen Listen zu setzen. Indem es seinen langjährigen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine überwachen lässt, (Beifall des Abg. Alois Karl [CDU/CSU]) macht sich das Saarland lächerlich. (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Peinlich ist auch, wie seit Jahren diejenigen diffamiert werden, die sich gegen Neofaschismus wenden, zum Beispiel die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Stattdessen sollten Sie die politische Bildungsarbeit intensivieren. Wir wenden uns daher gegen Kürzungen der Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung. Deren Programme können dann nichts bewirken, wenn die Bundesregierung selbst keine grundrechtsorientierte Politik praktiziert, wenn Abgeordnete über deutsche Leitkultur schwadronieren, wenn Sie Einwanderer und Flüchtlinge generell zur Bedrohung erklären und damit der Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten. Minister Schäuble hat letzte Woche in Heiligendamm mit EU-Kollegen über die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer gesprochen. Dort ertrinken jedes Jahr bis zu Tausend Flüchtlinge. Vizepräsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Diese Menschen riskieren ihr Leben, weil ihnen auf ihrer Flucht vor Elend und Verfolgung jeder legale Weg abgeschnitten wird. Die EU-Festung soll noch besser geschützt werden. Ihre Abschottungspolitik machen wir nicht mit. Diese Art von Sicherheitspolitik wird für Flüchtlinge weiterhin tödliche Folgen haben. Anstatt Mittel für Grenzsicherung und Abschottung in den Haushalt einzustellen, sollten Sie, wie gesagt, lieber Bildung finanzieren. Ich danke. (Beifall bei der LINKEN)
Zuerst die Furcht vor Verbrechen schüren, dann Einschränkung der Grundrechte fordern
Rede
von
Ulla Jelpke,