Rede Dr. Ilja Seifert am 31.01.2013 im Bundestag zum TOP 25
Gesetzentwurf der Grünen „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht“, Drucksache 17/12068
Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN ist eine gute Grundlage für erfolgversprechende Beratungen in den Ausschüssen und ein Ergebnis, das pauschalen Wahlrechtsausschluß beendet. Momentan haben wir einen Diskriminierungstatbestand, der eines der grundlegendsten Bürgerrechte – das Wahlrecht – betrifft. Ich meine: Er muß noch vor der diesjährigen Bundestagswahl beseitigt werden.
Die Behindertenbewegung fordert das seit Monaten. Initiiert von der Monitoringstelle des Deutschen Institutes für Menschenrechte sprachen sich 22 Verbände über den Deutschen Behindertenrat für die sofortige Streichung der Absätze 2 und 3 des Paragrafen 13 im Wahlgesetz aus.
Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat eine große Chance vertan, bei der Änderung des Bundeswahlgesetzes diese Verbändeposition aufzugreifen. Damit vergab sie auch eine Chance, die Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen als Partner und politische Mitgestalter auf Augenhöhe öffentlich zu würdigen. Das widerspricht ihrer Selbstverpflichtung aus der Ratifizierung der UN-Konvention, Artikel 4, Absatz a: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich…alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Zu diesen anerkannten Rechten gehört nach Artikel 29 ausdrücklich die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben.
Bis heute fehlen verläßliche Zahlen, wieviele Menschen nicht wählen dürfen, weil eine Betreuung „in allen Angelegenheiten“ bestellt wurde. Von 1,2 Millionen Menschen in Betreuung sollen es geschätzt zwischen 15 und 20 Tausend sein. Doch geht es weniger um die Zahl der Betroffenen. Schon ein einziger genügte, um das Grundsatzproblem aufzuwerfen: dürfen Gesetze oder Richter, Menschen mit Behinderungen zu Nicht-Staatsbürgern erklären – ihnen das Wahlrecht entziehen - , obgleich im Betreuungsrecht ihre Staatsbürgerlichkeit ausdrücklich vorausgesetzt ist? Bleibt das Wahlrecht allgemein, wenn es pauschal eingeschränkt werden darf, ohne dass eine individuelle Straftat vorliegt, die zum Entzug aller staatsbürgerlichen Rechte führt? Wir haben die absurde Situation, dass Straftäter ohne Behinderung in Deutschland wählen dürfen, soweit ihnen das Wahlrecht nicht per Richterspruch aberkannt wurde, während Straftätern mit Behinderung, untergebracht in der Forensischen Psychiatrie, das Wahlrecht entzogen ist. Das ist ein Diskriminierungs-tatbestand, der sofort aufzuheben ist.
Und ich erinnere noch einmal an die Forderung der Fraktion DIE LINKE, endlich die Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union zu ratifizieren. Fast ein Viertel der Anfragen in der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kommen von Menschen, die sich wegen einer Behinderung benachteiligt fühlen. Jeder fünfte Deutsche verbindet nach einer Forsa-Umfrage mit dem Wort „Behinderung“ auch die Tatbestände „Benachteiligung“ und Diskriminierung“. Das muß alarmieren.
Gestern gedachten wir der Opfer der „Euthanasie“-Morde. Die Vorstufe zu diesen menschenverachtenden Morden war die gewohnheitsmäßige und gesetzliche Diskriminierung. Wer „Euthanasie“ unumkehrbar unmöglich machen will, muß sorgsam jede noch so kleine Diskriminierung infolge einer Behinderung ahnden und gesellschaftlich ächten.
Deshalb plädiere ich auch energisch für eine Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Wahlrechtes und nicht im Betreuungsrecht, wie es von einigen Kollegen ins Gespräch gebracht wurde. Das deutsche Betreuungsrecht berührt zurecht das Wahlrecht bisher nicht. Das Wahlrecht als Staatsbürgerrecht schlechthin gehört nicht in einen Rechtskreis, der ausdrücklich vom Defizit eines Menschen ausgeht. Das Hohe Haus wird sich sehr bald mit dem Betreuungsrecht im Lichte der UN-Konvention befassen müssen. Dann geht es aber um die volle Handlungs- und Geschäftsfähigkeit jedes Menschen. Davon ist unser dem Vormundschaftsgedanken nach wie vor verpflichtete Betreuungsrecht noch weit entfernt. Es entspricht nicht dem Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention.
Dieser Konvention entspräche ein umfassendes Assistenzrecht, das den Anspruch jedes Menschen mit Behinderung auf bedarfsgerechte Assistenz einkommens- und vermögensunabhängig regelt und zugleich den Beruf des Assistenten gesetzlich bestimmt. Das Vorsorgerecht geht da in die richtige Richtung. Auch die Bundeswahlordnung schreibt den Anspruch der Unterstützung bei der Wahl schon heute fest.
Wir sind auch deshalb gegen eine Regelung des Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Betreuungsrechtes, weil dieses im Sinne des BGB auf die „natürliche Einsichtsfähigkeit“ abstellt. Praktisch wird jedoch schon jetzt nicht von dieser natürlichen Einsichtsfähigkeit ausgegangen. Menschen mit Vorsorgevollmacht dürfen sich bei der Wahl vertreten lassen, selbst wenn sie dement sind. Aber Demente ohne Vorsorgevollmacht dürfen nicht wählen. Jede Wählerinnen und jeder Wähler müßte eigentlich überprüft werden, ob er natürlich einsichtsfähig ist, oder nicht. Es geht beim Wahlrecht eben nicht um ein natürlich-physiologisches Vermögen. Es geht um politische Meinung, selbst als Ahnung oder als Gefühl oder aus früherer Gewohnheit. Diese kann jeder Mensch entwickeln, auch wenn er viele Lebensangelegenheiten nicht selbst regeln kann.
Energisch spricht sich DIE LINKE gegen den Vorschlag aus Koalitionskreisen aus, dass ein Richter, eine Richterin über die Aberkennung des Wahlrechts entscheiden soll. Herr Minister Friedrich stellt dabei auf die „richterliche Überzeugungsbildung“ ab. Ob ein Mensch jedoch seine staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen kann,ist eine praktische Frage. Erst wenn der Wahlakt ausgeübt wurde, wird sich erwiesen haben, welche Politik ein Wähler, eine Wählerin für sich einsichtig fand. Wer den Wahlakt nicht mehr bewältigt, wählt eben nicht. Wer den Wahlakt nicht versteht, gibt eben ein ungültige Stimme ab. Nichtwahl und ungültige Wahl läßt das Wahlrecht ausdrücklich zu, egal ob ich mit oder ohne Behinderung nicht oder ungültig wähle.
Es geht um die Allgemeinheit der Wahl. Der Staatsbürger will das Recht nicht als Privileg, meinte einst Hegel. Nach unserem Verständnis des Staatsbürgerrechtes könnte der § 13 des Bundeswahlgesetzes sogar komplett entfallen. Wird nicht von der Einsichtsfähigkeit ausgegangen, wäre es juristisch sogar konsequent, das Wahlrecht an keine Altersgrenze zu koppeln, also jegliche Altersbegrenzung aufzuheben.
Doch diese Debatte würde die dringliche – jetzt mögliche – Gesetzesänderung nur verzögern. Deshalb werde ich meiner Fraktion empfehlen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Auch im Interesse einer breiten öffentlichen Debatte über notwendige Anforderungen für die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bundestagswahljahr. Menschen mit Behinderungen brauchen barrierefreie Wahllokale, Wahlunterlagen in leichter Sprache, Wahlschablonen und andere Leitsysteme. Und eine Wahlwerbung , die für jeden Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich und verständlich ist.