Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir Linken wollen ein einfaches, demokratisches und transparentes Wahlrecht. Die Vorschläge der Linken hierzu kommen ungefähr ab Minute sieben meiner Rede.
Die Bürgerinnen und Bürger können derzeit maximal alle vier Jahre direkt auf Politik Einfluss nehmen, indem sie uns für vier Jahre ein Mandat geben. Fakt ist: Das Wahlrecht ist unübersichtlich und kompliziert. Doch reden wir bedauerlicherweise nicht deshalb hier darüber, sondern - das ist zu Recht gesagt worden - weil uns das Bundesverfassungsgericht einen Auftrag gegeben hat, nämlich den Auftrag, das Problem zu lösen, dass unter Umständen ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landesliste oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landesliste führt. Das nennt man negatives Stimmgewicht der Zweitstimmen, also der Stimmen, die man für die Landesliste einer Partei abgibt.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns vorgegeben, bis zum 30. Juni eine Lösung zu finden. Die Grünen haben dankenswerterweise wenigstens einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, auch wenn dieser nicht wirklich überzeugend ist. Was wollen die Grünen? Die Grünen wollen, dass die Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene angerechnet werden, und einige von diesen, wenn man mehr Direktmandate als Zweitstimmen bundesweit hat, wegfallen. Aus diesen bundesweit so errechneten Sitzen der Parteien werden dann wieder per Verhältnisrechnung die Sitze auf Landesebene bestimmt. Ob der Vorschlag verfassungsgemäß ist - darauf ist hier schon hingewiesen worden -, muss bezweifelt werden.
Das Verfahren, das die Grünen vorschlagen, klingt kompliziert,
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ist es auch!)
und es ist kompliziert. Genau das ist das Problem.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])
Die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler können überhaupt nicht nachvollziehen, was gemäß Ihrem Gesetz passieren soll. Nehmen wir ein zunächst theoretisches Beispiel: Die Linke gewinnt bei einer Bundestagswahl 76 Listenplätze und 80 Direktmandate.
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Ein Horrorszenario!)
In diesem Fall würden die vier Direktmandate mit dem schlechtesten prozentualen Ergebnis, die die Linke gewonnen hat, herausfallen. Jetzt könnten wir sagen: Das ist uns egal.
Ich gebe Ihnen nun ein einfacheres Beispiel: Bei der Bundestagswahl 2009 hätte es nach dem Modell der Grünen beispielsweise den Abgeordneten Singhammer von der CSU getroffen.
(Thomas Oppermann [SPD]: Auch kein schlechtes Beispiel!
- Zurufe von der LINKEN: Oh!)
Jetzt erzählen Sie mir einmal, wie Sie das den Wählerinnen und Wählern des Wahlkreises München-Nord erklären wollen.
(Thomas Oppermann [SPD]: Singhammer kann man das schon erklären, aber sonst ist es schwer!)
Soll man sich vor diese Wählerinnen und Wähler stellen und sagen: "Entschuldigung, Sie haben Herrn Singhammer zwar direkt ins Parlament gewählt, aber leider hat die CSU zu viele Listenmandate, und deswegen sitzt Herr Singhammer jetzt nicht im Parlament"? Ganz ehrlich, wer soll denn nach so einer Entscheidung noch einmal wählen gehen?
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der FDP)
Ich finde, ein CSU-Bashing ist an der einen oder anderen Stelle angebracht, aber bitte bei Inhalten und nicht bei so einem wichtigen Punkt wie dem Wahlrecht.
(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Gott sei Dank sind wir von Ihnen nichts anderes gewohnt!)
Jetzt lassen wir das Verfassungsrecht einmal kurz beiseite und betrachten ein politisches Argument gegen das Argument der Grünen. Die Nichtanerkennung gewonnener Direktmandate stärkt das Parteimonopol. Querköpfe in den eigenen Reihen finden häufig keinen Platz auf den Landeslisten, sondern gewinnen Mandate meist direkt. Die Stimmen für diese Kandidaten würden bei Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs unter Umständen überhaupt nicht mehr zur Geltung kommen. Ich finde, an dieser Stelle werfen Sie, die Grünen, das Problem der Listenverbindung CDU/CSU völlig zu Recht auf; aber die Lösung geht allein zulasten Bayerns und hat wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Wir Linken lassen keine Lösung zulasten Bayerns zu.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP - Thomas Oppermann [SPD]: Herr Uhl zieht seine Rede zurück!)
Es ist ja nicht so, dass in der Wissenschaft nicht auch andere Lösungen debattiert werden. Es gibt den Vorschlag, ein reines Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das lehnt die Linke ab. Es gibt den Vorschlag, ein reines Verhältniswahlrecht einzuführen. Ich persönlich kann dem sehr viel abgewinnen. Wir, die Linke, debattieren darüber aber noch. Es gibt den Vorschlag, ein Grabenwahlsystem einzuführen. Dieses System finden wir nicht überzeugend. Es gibt den Vorschlag, eine Bundesliste einzuführen. Diesen Vorschlag lehnt die Linke ab. Außerdem gibt es den Vorschlag, Listenverbindungen abzuschaffen. Auch das lehnen wir ab. Worüber wir ebenfalls diskutieren, ist die Schaffung von Ausgleichsmandaten.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Jetzt kommt Minute sieben!)
Die spannende Frage ist, wann die Koalition einen Antrag vorlegt. Die Grünen haben wenigstens, wie ich schon gesagt habe, etwas vorgelegt. Ich befürchte, dass wir Folgendes erleben werden - in diesem Parlament ein normales Schauspiel -: Kurz vor knapp kommt ein Antrag. Er wird an die Ausschüsse überwiesen. Dann findet eine Anhörung statt. Diese Anhörung wird nicht ausgewertet, und dann wird hier ruck, zuck ohne seriöse Debatte entschieden. - Dieses Verfahren lässt Bürgerinnen und Bürger außen vor, im Übrigen auch Parteien; denn dann entscheiden allein die Fraktionen.
Wir als Linke debattieren seit mehr als einem halben Jahr über das Wahlrecht. Wir debattieren darüber, dass Änderungen am Wahlrecht an mehr Stellen als allein in Bezug auf das negative Stimmgewicht nötig sind. Wir finden, dass die Gestaltung unseres Wahlrechts eine Frage der Demokratiegestaltung ist. Es muss beim Wahlrecht darum gehen, wie wir Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss auf Politik geben.
(Beifall bei der LINKEN)
Bürgerinnen und Bürger engagieren sich: Tausende waren bei Antiatomprotesten. 20 000 haben das Bündnis "Dresden Nazifrei!" bei der Blockade unterstützt. Circa 20 000 haben an der Demonstration "Freiheit statt Angst" teilgenommen. Die Wahlbeteiligung hingegen sinkt. Dass die Wahlbeteiligung sinkt, hat sicherlich etwas mit Schröders Basta-Politik zu tun, und auch "Muttis Moratoriumspolitik" wird daran nichts ändern.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ihre Redezeit ist um!)
- Ich habe noch ein bisschen Redezeit. Warten Sie ab. -
Wir haben jedoch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich Bürgerinnen und Bürger zwar engagieren, aber entweder weniger oder gar nicht in Parteien. Das ist ein Problem. Wir müssen uns fragen, ob nicht das Wahlrecht eine Möglichkeit bietet, die Demokratie zu demokratisieren.
Reden wir doch einmal über das Verfahren der Zulassung von Parteien. Man trifft sich im Bundeswahlausschuss, in dem die im Bundestag vertretenen Parteien über die Zulassung ihrer Konkurrenz entscheiden,
(Thomas Oppermann [SPD]: Habt ihr jetzt ja hinter euch!)
und das nach den Kriterien des § 2 Parteiengesetz, in dem es um so wichtige Fragen wie die Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung geht. Ehrlich gesagt, finde ich es schon absurd, dass die Parteien über die eigene Konkurrenz entscheiden. Dass diese Entscheidung anhand dieser interpretierbaren Kriterien getroffen wird, ist viel absurder. Der Gipfel der Unverschämtheit ist aber, dass Parteien, die vom Bundeswahlausschuss nicht zugelassen werden, nicht einmal die Chance haben, sich einzuklagen. Mindestens das hätten die Grünen in ihrem Gesetzentwurf aufgreifen müssen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Wir, die Linke, debattieren seit einem halben Jahr über die Demokratisierung des Wahlrechts. Ich verspreche Ihnen: Wir legen Ihnen mehr auf den Tisch als nur Antworten auf die bereits gestellten Fragen.
Wir debattieren darüber, wie der Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Parteilisten erhöht werden kann, und wir debattieren darüber, ob es dazu sinnvoll ist, drei Stimmen innerhalb einer Landesliste verteilen zu können.
Wir debattieren darüber, ob es das Wahlrecht vereinfachen würde, wenn die Erststimme entfallen würde.
Wir debattieren darüber, wie konkret der Rechtsschutz einer Partei bei Nichtzulassung zur Wahl aussehen kann und ob wir die Wahlausschüsse wirklich benötigen.
Wir debattieren darüber, ob die 5-Prozent-Hürde in Deutschland tatsächlich erforderlich ist, um die Demokratie zu bewahren.
Wir debattieren, ob neben dem aktiven Wahlalter auch das passive Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden soll.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir debattieren, ob das Wahlrecht für Menschen, die legal länger hier in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, eingeführt werden soll.
Seien Sie sicher, in Kürze erhalten Sie einen umfassenden Vorschlag von uns!
Es geht aber um mehr als das Wahlrecht. Für uns ist das Wahlrecht nur ein Bestandteil der Erneuerung der Demokratie. Wir finden, dass ein umfassendes Demokratisierungskonzept nötig ist. Dazu gehören für uns beispielsweise die Ausweitung des Petitionsrechts, mehr Möglichkeiten zu direkter Demokratie, das Verbot von Leihbeamten in Ministerien und das Verbot von Spenden von Unternehmen an Parteien.
Wir wollen auch einen Demokratisierungs-TÜV bei allen Gesetzen, die beschlossen werden, und eine Bundesregierung, die ihr Handeln an Recht und Gesetz orientiert.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit einem Demokratisierungs-TÜV beispielsweise wäre Hartz IV gescheitert, und nicht nur, weil Hartz IV Armut per Gesetz ist. Hartz IV ist nämlich auch ein Demokratiebeteiligungsausschlussgesetz. Gerade im ländlichen Raum ist es mit dem Regelsatz fast unmöglich, sich an politischen Entscheidungsprozessen und Aktionen zu beteiligen. Schauen Sie sich einmal an, wie viel im Regelsatz für Fahrtkosten vorgesehen ist. Außerdem - wir reden ja über Wahlen - stellt die Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für die Wahrnehmung kommunaler Mandate, zumindest teilweise, eine Unverschämtheit dar, weil sie eine Schlechterbehandlung ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Grünen springen zu kurz mit ihrem Gesetzentwurf. Er ist inhaltlich nicht überzeugend. Es ist mehr nötig als eine Änderung des Wahlgesetzes anhand der von Ihnen aufgeworfenen Fragen. Die Regierungskoalition sollte schnell etwas auf den Tisch packen. Wir alle sind aufgefordert, das Wahlrecht umfassend zu reformieren. Ich bitte Sie: Denken Sie über die Einführung eines Demokratie-TÜV nach!
(Beifall bei der LINKEN)