"Rede von Kirsten Tackmann zur Regierungserklärung "Vogelgrippe": Es geht nicht um Panikmache, sondern darum ein ernstes Problem zu lösen. Das bedeutet vor allem, die epidemiologischen Kapaztäten in Deutschland zu stärken."
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, Um es voran zu schicken: auch uns geht es nicht um Panikmache. Im Gegenteil, denn Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Bezüglich der aktuellen Infektionsgefahr für den Menschen muss die öffentliche Debatte immer wieder gerade gerückt werden: bei 7.000 - 13.000 jährlichen Todesfällen beim Menschen allein in der Bundesrepublik infolge humaner Influenzaviren relativieren sich die unter 80 WELTWEITEN Todesopfer durch H5N1, auch wenn diese Anlass genug sein sollten, den humanmedizinischen Aspekt in dieser Diskussion niemals aus dem Auge zu verlieren. Die viel größere Gefahr besteht für das mehr als 160 Millionen starke Geflügelvolk. Dem Geflügelpestausbruch in Italien 2003 sollen 30 Millionen Hühner zum Opfer gefallen sein. Die wirtschaftlichen Verluste z. B. in Asien wurden im vergangenen Jahr auf mehr als 10 Milliarden Euro geschätzt. Es stehen damit auch wirtschaftliche Existenzen auf dem Spiel. Wir haben also ein sehr ernstes Problem, zumindest potentiell. Aber nach den beiden Anhörungen im Ausschuss bin ich mir eher unsicher, ob wir der bedrohlichen Situation entsprechend aufgestellt sind. Aus vielen verschiedenen Gründen, von denen ich nur einige nennen kann. Vor allem die zentralen Defizite hinsichtlich der epidemiologischen Grundlagen der aviären Influenza sind beunruhigend, denn dieses Wissen ist der Schlüssel für effektive und angemessene Handlungskonzepte. Es stellen sich neben ganz grundsätzlichen auch sehr konkrete Fragen, die alle unbeantwortet sind: Welche Konsequenzen hat die Situation in Norditalien, wo aufgrund der Impfung nicht zwischen infizierten und geimpften Tieren unterschieden werden kann? Wie ist das Virus zu uns gelangt? Wie lange hält es sich bereits hier auf - tote Schwäne gab es schließlich jedes Jahr! Welche Verbreitungswege hat es genommen oder wird es noch nehmen? Warum sind jetzt ausgerechnet Höckerschwäne eine Indikatorspezies? Sind sie infektionsgefährdeter? Sterben sie besonders schnell? Werden sie nur öfter untersucht? Geht von ihnen unmittelbar eine Gefahr für die Geflügelhaltungen aus? Die letzte Frage könnte man grundsätzlich mit ja beantworten, denn es gab Ausbrüche in Gebieten, in denen Schwäne infiziert waren. Aber was bedeutet das unter den hiesigen Verhältnissen? Welche anderen Vogelarten sind involviert? Wie verhält sich das Virus in Wildvögeln? Diese Fragen belegen die Defizite. Dabei war, wenn wir ehrlich miteinander sind, die Wahrscheinlichkeit dieser Einschleppung doch eher hoch. Ich habe darauf bereits mehrmals auch von dieser Stelle aus darauf hingewiesen. Denn die wichtigsten Einschleppungsrisiken wie illegale Einfuhr von Risikomaterial und Vogelzug sind nicht beherrschbar. Es wäre also Anlass und Zeit gewesen, sich einigen Fragen sehr ernsthaft zu widmen. Zugegeben: es ist schon ein gewaltiger Fortschritt, dass Bundes- und Landesregierungen auf die Risikobewertungen der Experten im Friedrich-Loeffler-Institut, vor allem im Institut für Epidemiologie in Wusterhausen, jetzt ernster nehmen. Aber selbst Epidemiologen können nicht alles gleichzeitig tun: wissenschaftlich arbeiten, die relevanten Daten sammeln, pflegen und evaluieren, in der Türkei, in Rumänien oder Nigeria die Bekämpfung unterstützen, in Brüssel, Bonn und Berlin Rede und Antwort stehen, und tagesaktuell Risikobewertungen erarbeiten. Wenn jetzt die Wusterhausener Epidemiologische Einsatzgruppe zu Seuchenausbrüchen angefordert werden muss, ziehen wir die viel zu kurze Decke weiter von links nach rechts und zurück. Selbst mit Mut zur Lücke und dankenswert hohem Engagement der Kolleginnen und Kollegen sind unter solchen Bedingungen nicht mehr alle fachlichen Anforderungen zu erfüllen, Forschung bleibt nahezu gänzlich auf der Strecke. Fehlende Ressourcen durch nicht wiederbesetzte oder nicht zugewiesene Personalstellen spitzen die Situation weiter zu. Die Frage nach der dringenden Notwendigkeit eines personell und finanziell angemessen ausgestatteten epidemiologischen Zentrums, wie es in Wusterhausen in Grundzügen besteht, ist in anderen Ländern Europas und der Welt längst positiv beantwortet. In Deutschland dagegen wird die Wissenschaftsdisziplin Epidemiologie oft auf Prozentrechnung und mehr oder weniger bunte Karten reduziert. Das ist bei der zunehmenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedeutung von Tierseuchen in Zeiten von MKS, Schweinepest, SARS und Tollwut, auch infolge wachsender Personen- und Warenströme einer globalisierten Welt, blamabel für ein Land der Dichter und Denker. Dass eine epidemiologische Einrichtung an einen für diese spezifischen Aufgaben geeigneten Standort gehört, sollte eigentlich unstrittig sein. Die Wusterhausener kämpfen jetzt seit 10 Jahren um IHREN Standort und sie werden es weiter tun. Wie sich jetzt zeigt: mit Recht. Beim Thema Epidemiologie war übrigens die ehemaligen DDR offensichtlich ihrer Zeit weit voraus. Das ist eine der vergebenen historischen Chancen. Auch durch diese Defizite wissen wir eigentlich im Augenblick nur eines sicher: H5N1 ist bei uns angekommen. Spätestens jetzt stellt sich sehr drängend die Frage: Sind wir auf einen daraus möglicherweise folgenden Tierseuchenausbruch vorbereitet? Die Bundesregierung verweist auf standardisierte Bekämpfungsverfahren, deren Effektivität und Realisierbarkeit noch nicht bewiesen ist. Jedenfalls sind das keine Bekämpfungskonzepte, wie sie gebraucht würden: wissenschaftlich erarbeitet und evaluiert, mit Kosten-Nutzen-Rechnung, mit Ermittlung der notwendigen und -sehr wichtig - tatsächlich verfügbaren finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen und mit Prüfung von Präventionsoptionen wie Impfstrategien. Da das nicht vorliegt, kriegt jetzt das Geflügel eben zweimal jährlich Knast. Antworten der Bundesregierung auf meine schriftlichen Anfragen verweisen auf weitere Unwägbarkeiten: Krisenübungen haben Defizite gezeigt. Das für solche Krisen so dringend gebrauchte Mobile Bekämpfungszentrum scheint immer wieder in die Mühlen des Förderalismus und anderer sachfremder Erwägungen zu geraten. Ebenso das für bundesweite Koordinationen so dringend benötigte Tierseuchenbekämpfungshandbuch. In dem Wissen, dass sich Tierseuchen selten an administrative Grenzen halten, kann ich an dieser Stelle nur aufrufen: weniger Föderalismus wagen! Das Wissensdefizit bei Wildtieren als Erregerreservoir fällt uns auch bei anderen Infektionen immer wieder auf die Füße. Dass ausgerechnet jetzt den oft ehrenamtlich arbeitenden ornithologischen Experten und Strukturen das finanzielle Siechtum droht, ist eine dramatische Verkennung der Notwendigkeiten. Vielmehr ist ein Ausbau und eine enge Verknüpfung von wildtierbiologischen und epidemiologischen Ressourcen zu fordern - und am Ende auch billiger, wenn man die wirtschaftlichen Schäden durch Tierseuchen in die Bilanz aufnimmt. Fazit: wir wissen vieles nicht, aber eines steht fest: die Zeit des Beobachtens ist vorbei. Jetzt muss agiert werden. Ich hoffe, darauf sind wir einigermaßen vorbereitet.
Vogelgrippe: Die Zeit des Beobachtens ist vorbei, jetzt muss gehandelt werden
Rede
von
Kirsten Tackmann,