"Der Erfolg der Bundesrepublik beruhte einmal darauf, dass man es vermochte Kapitalismus und soziale Ziele miteinander zu vereinbaren. Wir erleben jedoch heute wie die sozialen Erfolge aus Jahrzehnten "hinwegreformiert" werden. Übrig geblieben ist - heute- der Kapitalismus. Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der, der Wert des Menschen am Lineal der Ökonomie gemessen wird. Wolfgang Neskovic in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 07 - Bundesministerium der Justiz:"
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vierten Nachwendejahr äußerte Theo Sommer in der „Zeit“ die Überlegung, der Kapitalismus habe gar nicht gesiegt, er sei nur übrig geblieben. Heute, 16 Jahre nach dem gewaltigen Umbruch, werden die Wahrheit und die Tragik dieses Satzes vom übrig gebliebenen Kapitalismus für uns alle erkennbar. Die Bundesrepublik war weit davon entfernt, eine perfekte Gesellschaft zu sein. Aber unter der Herrschaft des Grundgesetzes hat sie sich immerhin zu einem Staat entwickelt, der sich ernsthaft bemühte, den Menschen nicht nur Freiheit und Selbstverwirklichung zu verschaffen, sondern ihnen auch zu sozialer Sicherheit und Chancengleichheit zu verhelfen. Man hat bewiesen, dass Kapitalismus und soziale Ziele nicht notwendigerweise Gegner sein müssen. Die Wiedervereinigung Deutschlands stand unter dem Versprechen, diesen Erfolg zu halten und weiter auszubauen. Wir erleben heute jedoch, wie die Erfolge des sozialen Rechtsstaats hinwegreformiert werden. So gewinnt das eingangs verwandte Zitat erst heute seine wirkliche Bedeutung: Übrig geblieben ist heute der Kapitalismus. Die politische Mehrheit in diesem Hause schämt sich nicht einmal dafür, dass sie die Werkzeuge des Abrisses von Errungenschaften aus Jahrzehnten als Reformen bezeichnet. Eine Reform reißt soziale Errungenschaften nicht nieder, sondern schafft soziale Errungenschaften. (Beifall bei der LINKEN) Die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Interessen der Arbeitnehmer - das war eine Reform. Die Bindung der drei Gewalten an das Sozialstaatsprinzip - das war eine Reform. Die Einrichtung und der Ausbau der Arbeitnehmermitbestimmung - das war eine Reform. Eine Reform erkennen Sie immer daran, dass sie die Position der Schwachen stärkt. Keine Reform ist es, wenn die Schwachen der Gesellschaft für ihre Schwächen auch noch büßen müssen. Hartz IV ist dabei nur die Spitze des Eisberges in einem kalten Meer neoliberaler Maßnahmen, in dem die Verlierer der Gesellschaft frierend ertrinken. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Völliger Blödsinn!) - Sie sollten darüber keine Scherze machen. Für viele Menschen ist das bittere Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN - Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein, das ist zynisch!) Der Erfolg des sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik ruhte auf vier stabilen Säulen. Als erste der Säulen ist die Pflicht zur Einrichtung eines sozialstaatlichen Rechtssystems zu nennen, zu dem Arm und Reich gleichermaßen Zugang haben. Der Gerichtssaal nivelliert die soziale Herkunft für die Dauer der Verhandlung. Er ist die Schicksalskorrektur, wenn es um die Durchsetzung des Rechts geht. Sie können dem Einzelplan 19 entnehmen, dass dem Bundesverfassungsgericht zukünftig rund 1 Million Euro weniger zur Verfügung stehen. Ähnliches können Sie den Haushaltsplänen der Länder entnehmen. Dieser Abwärtstrend in Ausstattung und Besetzung der Gerichte trifft zuerst diejenigen, die den Gleichmacher Recht am dringendsten benötigen: die Schwachen in der Gesellschaft. (Zuruf von der SPD: So ein Unsinn!) Ganz im Trend der Zeit legte der Bundesrat kürzlich einen wirklich schaurigen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Prozesskostenhilfe vor. Der Entwurf sieht ganz erhebliche Erschwernisse für die Gewährung der Prozesskostenhilfe vor. Um Ihnen nur den unerträglichsten Neuregelungsvorschlag zu nennen: Allein die Prüfung der Gewährung der Prozesskostenhilfe soll eine Zahlungspflicht von 50 Euro für jeden Bürger auslösen, dessen monatliches Einkommen nur 100 Euro über dem Existenzminimum liegt. Das ist also die Praxisgebühr im Gerichtssaal. Wenn das Gesetz wird, dann werden viele in unserem Land feststellen, dass sie sich sogar ihren von der Verfassung garantierten Justizgewährungsanspruch nicht mehr leisten können. Übrig geblieben ist der Kapitalismus. Ich komme zur zweiten Säule des sozialen Rechtsstaates. Verwandt mit dem sozialen Recht ist der Anspruch, ein Recht zu schaffen, das mit Besonderheiten angemessen umgeht und dabei den Grundsatz der Billigkeit beachtet. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Ihre Rede ist billig!) Ein Recht um jeden Preis ist Unrecht. Als die alte Bundesrepublik fünf neue Länder dazu brachte, sich in den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu begeben, da verpflichtete sie sich, mit den Besonderheiten des Ostens gerecht umzugehen. Das bedeutete die Pflicht, grobe Unbill zu korrigieren. Das bedeutet aber auch die Pflicht, lang Gewachsenes anzuerkennen. Man hat die Rechtsfigur des getrennten Gebäudeeigentums nicht anerkannt, sondern den Häuschen- und Garageneigentümern lediglich Übergangsfristen eingeräumt, nach deren Ablauf sie ihr Eigentum faktisch entschädigungslos verlieren. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! So ist es!) Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, der mit dem Ablauf dieser Fristen Entschädigungsleistungen in der Höhe des Zeitwerts vorsieht. (Beifall bei der LINKEN) Da der Antrag von uns kommt, werden Sie ihn erwartungsgemäß ablehnen. Übrig geblieben ist der Kapitalismus. Ich komme zur dritten Säule des sozialen Rechtsstaates. Ein dritter Grund für die Erfolge der alten Bundesrepublik bestand darin, dass man am Ende, trotz aller Meinungsverschiedenheiten und heftiger Streitigkeiten, für mehr Gleichheit unter den Menschen sorgte. Um dieses Ideal von der Gleichheit der Menschen ging es auch bei den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union, die längst in innerdeutsches Recht umzusetzen waren. Indem diese Aufgabe erst lustlos angegangen, dann wiederholt verschleppt wurde, ist deutlich geworden, was Sie von diesem politischen Erbe heute halten. Der Entwurf des AGG, den Sie heute in die Beratung eingebracht haben, hat der Wirtschaft viel Sorge bereitet. Die Wirtschaft wird ihre Ängste rasch los sein. Der Entwurf ist nur ein schüchternes Schäfchen in einem gewaltigen Wolfskostüm. (Beifall bei der LINKEN) Ein ganz wesentlicher Mangel ist die fehlende Verbandsklage für Antidiskriminierungsverbände. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Um Himmels willen!) - Genau. Um Himmels willen! Der Kapitalismus ist übrig geblieben. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Oh je! - Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der arme Theo Sommer! Er wird missbraucht!) Dort, wo Ihr Mut, Ihre Veränderungsbereitschaft besonders gefragt gewesen wären, nämlich bei der Anerkennung der sozialen Herkunft als Merkmal für Diskriminierung, haben Sie gekniffen. Die soziale Herkunft sucht man in Text und Begründung des Entwurfs vergeblich. Zu den ganz alltäglichen Benachteiligungen bestens ausgebildeter und hoch intelligenter Jobbewerber aus armem Elternhaus empfehle ich Ihnen statt Polemik und unqualifizierter Zwischenrufe Michael Hartmanns Buch „Der Mythos von den Leistungseliten“. Darin wird empirisch aufbereitet, dass die soziale Herkunft weit bedeutsamer für eine Karriere ist als aller Fleiß und alle Klugheit. (Beifall bei der LINKEN) Trotz dieser schwer wiegenden Mängel wäre dieser Entwurf noch von einem gewissen Wert gewesen, hätten Sie nicht den Anspruch auf Abschluss einen Arbeitsvertrages ausdrücklich ausgeschlossen. Was also hat der diskriminierend abgewiesene Arbeitsuchende von Ihrem Entwurf? Wenn es ihm überhaupt gelingt, die Diskriminierung nachzuweisen, dann erhält er nicht etwa die begehrte Stelle, sondern hat Anspruch auf Schadenersatz. Damit geben Sie dem Abgewiesenen Geld an die Hand anstelle einer Chance im Leben. Fortan kann sich also jeder ausrechnen, was ihn die Diskriminierung seines Mitmenschen kostet. Lohnt sie sich oder ist sie mit Blick auf die Gesamtbilanz bereits ineffektiv? (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind ja zynisch!) Heribert Prantl (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der hat noch gefehlt!) fragte unlängst völlig zu Recht, ob wir wirklich eine Gesellschaft wollen, in der der Wert des Menschen am Lineal des Ökonomen gemessen wird. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nichts gegen Ökonomen! Keine Diskriminierung von Ökonomen am Rednerpult!) Übrig geblieben ist ganz offenbar der Kapitalismus. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habt ihr das denn alles im Realsozialismus gehabt? Hattet ihr dort ein Antidiskriminierungsgesetz? Hattet ihr dort unabhängige Richter wie Sie, Herr Neškovi??) Ich komme zur vierten und letzten Säule des sozialen Rechtsstaates. Die vierte Säule ist die Begrenzung staatlichen Handelns durch die Grundrechte. Auch hier treiben Sie heute Pfusch am Staatsbau. Die Liste der Grundrechtsverletzungen per Gesetzesverabschiedung, die Ausdruck Ihres politischen Grundverständnisses sind, ist lang: großer Lauschangriff, Zollfahndungsdienstgesetz, Europäisches Haftbefehlgesetz, Luftsicherheitsgesetz, Rasterfahndung, Jugendstrafvollzug. Man kann sagen: Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang. (Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Immer wieder musste Ihnen das Bundesverfassungsgericht in den Arm fallen, weil Sie jeden Respekt vor der Verfassung und ihren Werten verloren haben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das Verhältnis Ihrer Fraktion zu der Verfassung werden wir noch einmal überprüfen!) Mit bisher nicht bekannter Schärfe hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht beim Luftsicherheitsgesetz ins Stammbuch geschrieben, dass das Parlament mit diesem Gesetz die Kernvorschrift unserer Verfassung verletzt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Annahme des Gesetzgebers, der Staat sei berechtigt, unschuldige Menschen vorsätzlich zu töten, unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes schlechterdings unvorstellbar sei. Sie haben sich dies nicht nur vorgestellt. Nein, Sie sind weit darüber hinausgegangen. Sie haben ein solches Gesetz gemacht. Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Gesetzgeber ein Gericht gebraucht, um in Erfahrung zu bringen, dass es falsch sei, Unschuldige durch den Staat vorsätzlich zu töten. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Nun kommt die Tränendrüse des Herrn Bundesrichters! - Joachim Stünker [SPD]: Nun reicht es aber!) - Es reicht in der Tat, was Sie mit diesem Staat und seiner Verfassung machen. (Beifall bei der LINKEN) Noch etwas anderes ist in diesem Zusammenhang neu: Ihr Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang ruft Allianzen hervor, die ich mir früher nicht hätte vorstellen können. Ihnen liegt heute ein Gruppenantrag aller drei Oppositionsfraktionen zur Vorratsdatenspeicherung vor, den Sie annehmen sollten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nein! - Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sie sollten Vernunft annehmen!) Der Antrag bezweckt die Überprüfung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Wege der Nichtigkeitsklage. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie den empfehlen, dann zweifeln wir sofort!) - So einfach strukturiert denken Sie; das ist wahr. (Beifall bei der LINKEN - Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja, das ist so!) Die Freiheitsrechte waren bislang für nahezu jedermann - ob links oder konservativ - eine Grundbedingung des demokratischen Staates. Ich frage mich: Was ist aus diesem Grundkonsens geworden? Ist er noch Richtlinie der Politik, die Sie machen? Frau Bundeskanzlerin Merkel sagte vor deutschen und amerikanischen Wirtschaftsvertretern am 6. Mai 2006 in New York, das „demokratische Modell“ stehe im Wettbewerb der globalen Wirtschaft auf dem „Prüfstand“. Sie sagte wörtlich: … man kann nicht von einer Überlegenheit der Demokratie sprechen, wenn die ökonomischen Erfolge ausbleiben … Diese Formulierung, Herr Kampeter, zeugt von einem fundamentalen Missverstehen unserer Verfassung. Das Grundgesetz enthält, wie allgemein - und somit auch Ihnen - bekannt ist, keine Festlegung auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem. Aber dieses Grundgesetz enthält sehr wohl eine ganz eindeutige Festlegung auf das politische System. Es handelt sich nämlich um die Demokratie - und nur um die. (Beifall bei der LINKEN) Da gibt es keinen Bedarf für Wettbewerb. Übrig geblieben ist der Kapitalismus, der den in Jahrzehnten geschaffenen Schutz der Schwachen beseitigt, der sich der Politik mit seinen Interessen als Entscheidungsprimat aufzwingt, der seinen ökonomischen Zielen sogar demokratische Grundprinzipien opfern möchte. Das ist die Politik, die wir von der Linksfraktion bekämpfen. Dafür sind wir gewählt worden; dafür stehen wir hier. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der SPD: Armes Deutschland!)
Übrig geblieben ist der Kapitalismus
Rede
von
Wolfgang Neskovic,