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Statt Hartz IV - endlich eine soziale Grundsicherung einführen!

Rede von Katja Kipping,

Kinder, Frauen, Handwerker, Beschäftigte und Erwerbslose gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert. Hartz IV folgt grundsätzlich der falschen Ideologie. Kosmetische Schönheitskorrekturen können daran nichts ändern. Wir meinen also: Hartz IV muss grundsätzlich überwunden werden. Das Arbeitslosengeld II in seiner jetzigen Form muss dabei durch eine soziale Grundsicherung ersetzt werden. Katja Kipping in der Debatte auf Antrag der Fraktion die LINKE: Hartz IV überwinden:

"Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe hier eine kleine Broschüre, die den Titel "Hartz IV - Menschen in Arbeit bringen" trägt. Im Dezember 2004 diente sie zur Information. Inzwischen taugt diese Broschüre nur noch für die Märchenstunde. Denn von "Menschen in Arbeit bringen" kann leider nicht allzu viel die Rede sein. Man muss sich nur die aktuellen Verlautbarungen der Bundesagentur anhören, um deutlich mitzubekommen: Die Realität spricht eine andere Sprache. (Beifall bei der LINKEN) So war in den aktuellen Mitteilungen der Bundesagentur zu lesen, nach dem Saisonbereinigungsverfahren errechne sich für März eine Zunahme der Arbeitslosenzahl um 30 000. Erwerbslose erleben immer weniger wirkliche Hilfe bei der Suche nach einem Job, sondern leider zunehmend Demütigungen. In meinem Wahlkreis hat mich neulich ein über 50-jähriger Mann angesprochen, der sein Leben lang gewohnt war, von seiner Hände Arbeit zu leben, und zwar im Baubereich. Ihm hatte man nun einen 1-Euro-Job gegeben. Seine Tätigkeit bestand darin, Unkraut zu jäten, allerdings im Winter. Was haben die 1-Euro-Jobber gemacht? Sie haben - mir wurden diese Bilder gezeigt - erst den Schnee weggeschippt, um dann zu versuchen, in dem gefrorenen Boden Unkraut zu jäten. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje!) Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren hätte man gedacht, das seien Geschichten aus Absurdistan, das seien Geschichten aus der Kategorie Schildbürgerstreiche. Aber nein, das ist leider die traurige Realität mit Hartz IV. Hier muss sich etwas ändern. (Beifall bei der LINKEN) Doch nicht nur die Erwerbslosen gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Wohlfahrtsverbände haben errechnet, dass die Zahl der Kinder, die in Armut leben, mit Hartz IV um 500 000 zugenommen hat. Frauen erleben eine zivilisatorische Rückwärtsrolle. Neulich erst bei einer Montagsdemo in Weißenfels hat mich eine Frau angesprochen. Sie war es immer gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen. Nun ist sie arbeitslos und hat das Pech, dass ihr Mann nur wenige Euro über der Bemessungsgrenze verdient und sie keinerlei Anspruch auf eigene Leistungen hat. Sie muss nun zu ihrem Mann gehen und die Hand aufhalten. (Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bedarfsorientierte Grundsicherung!) Das ist für sie eine unzumutbare Demütigung. (Beifall bei der LINKEN) Aber auch die Beschäftigten gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Die Erpressbarkeit hat zugenommen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Vielleicht ist auch Ihnen der Bericht einer Arbeitsgerichtsdirektorin zu Ohren gekommen, die beispielsweise von einem dreifachen Vater berichtet hat, der ohne Widerspruch von heute auf morgen eine Lohnreduzierung um 20 Prozent akzeptiert hat. Diese Arbeitsgerichtsdirektorin meinte, es sei die Existenzangst, die Leute dazu zwinge, auf ihre Rechte zu verzichten. (Beifall bei der LINKEN) Die Liste der Verlierer geht weiter. Handwerk und Handel klagen über fehlende Binnenkaufkraft. In meinem Wahlkreis (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie haben gar keinen Wahlkreis!) gibt es in einer früher florierenden Ladenstraße immer mehr leere Schaufenster, weil wieder einmal ein Frisör Pleite gemacht hat, weil die Leute sich die Produkte und Dienstleistungen nicht mehr leisten können. Das Fazit ist: Kinder, Frauen, Handwerker, Beschäftigte und Erwerbslose gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert. (Beifall bei der LINKEN) Hartz IV folgt grundsätzlich der falschen Ideologie. Das können kosmetische Schönheitskorrekturen nicht ändern. Wir meinen also: Hartz IV muss grundsätzlich überwunden werden. Das Arbeitslosengeld II in seiner jetzigen Form muss dabei durch eine soziale Grundsicherung ersetzt werden, die repressionsfrei erfolgt, die diesen Namen verdient und die gesellschaftliche Teilhabe wirklich ermöglicht. (Beifall bei der LINKEN) Die 1-Euro-Jobs müssen durch sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Das Motto könnte lauten: Ordentliche Schulsozialarbeiter statt viel zu kurze und schlecht bezahlte 1-Euro-Jobs. (Beifall bei der LINKEN - Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Stellt doch euer Vermögen zur Verfügung!) Auch die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I muss länger werden. Wir schlagen hier vor: Für jedes Jahr Beitragszahlung hat man Anspruch auf einen Monat Arbeitslosengeld I. Natürlich gibt es da auch für uns eine Mindestfrist. (Beifall bei der LINKEN) Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft sollte im 21. Jahrhundert endlich überwunden werden. Die gegenseitige finanzielle Inhaftnahme innerhalb einer Familie erhöht nur die Anzahl der negativen Aspekte, nämlich ökonomische Abhängigkeit. Wir meinen, es ist Zeit, einen Individualanspruch einzuführen. (Beifall bei der LINKEN - Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Solidarischer Zusammenhalt einer Familie, Frau Kipping! So etwas kennen Sie nicht!) Wir meinen auch: Schutz vor Wohnungslosigkeit muss gewährleistet werden. Uns allen wird immer schön warm ums Herz, wenn wir in der Weihnachtszeit Berichte im Fernsehen darüber sehen, wie Obdachlosen geholfen wird. Aber Wohnungslosigkeit, die sich durch Hartz IV wahrscheinlich verschärfen wird, ist eben nicht nur zu Weihnachten ein Problem, sondern das ganze Jahr über. Deswegen sagen wir: Das Menschenrecht auf Wohnen muss gewahrt werden. (Beifall bei der LINKEN) Um das zu finanzieren, ist natürlich eine Neuausrichtung in der Steuerpolitik notwendig. Die Großzügigkeit gegenüber Vermögenden und Unternehmen mit Gewinnen können wir uns tatsächlich nicht mehr leisten. (Beifall bei der LINKEN) Wer also Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, der kann feststellen: Hartz IV muss gekippt werden. Nun kann ich verstehen, dass es Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, schwer fällt; es ist immerhin einmal Ihr Referenzprojekt gewesen. Es gibt einige Probleme, vor denen auch Sie die Augen nicht verschließen können. Meine Damen und Herren von der SPD, es gibt einige Verbesserungen, die müssten Sie mit uns jetzt endlich gemeinsam in Angriff nehmen können. Ich empfehle Ihnen die aktuellen Untersuchungen der Caritas zur Lektüre. Diese Untersuchungen besagen: Der Krankenversicherungsschutz ist das Mindeste, was für jeden Erwerbslosen gewährleistet sein muss. (Rolf Stöckel [SPD]: Genau das haben wir eingeführt!) Die heutige Situation sieht so aus, dass Frauen, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben - das betrifft auch Männer; aber in den meisten Fällen sind doch eher die Frauen betroffen, weil die Männer mehr verdienen - und die das Pech haben, dass das Einkommen ihrer Partner nur wenige Euro über der Beitragsbemessungsgrenze liegt, keinerlei Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung haben. Versuchen Sie einmal als Frau über 50, sich bei einer privaten Krankenversicherung zu versichern! Dafür sind Beträge nötig, die ein Arbeitsloser nicht aufbringen kann. (Beifall bei der LINKEN) Auch Ihnen muss doch verständlich sein, dass es nicht angeht, dass das Pflegegeld und die EU-Renten für Behinderte bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigt werden. (Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bei einer bedarfsorientierten Grundsicherung aber so!) Vor einer Sache kann man die Augen nicht verschließen: Widersprüche gegen belastende Bescheide müssen endlich eine aufschiebende Wirkung haben. Das ist zum einen ein Gebot des Rechtsstaates. Wir sehen doch, dass es bei der Bearbeitung der Widersprüche tatsächlich enorme Probleme gibt. Ich habe neulich in einer Runde von Erwerbslosen gesagt: Ja, ich weiß, auf die Bearbeitung mancher Widersprüche wartet man schon seit sechs Monaten. Da bin ich ausgelacht worden und die Leute haben gesagt: Wir warten leider schon seit einem Jahr darauf, dass unser Widerspruch bearbeitet wird. (Rolf Stöckel [SPD]: Aber es bleibt keiner ohne Hilfe!) - Das ist schöne Theorie, was Sie sagen. Die Praxis sieht leider anders aus. Wir haben uns in den einzelnen Kommunen umgehört. Fast überall ist bisher erst jeder zweite Widerspruch bearbeitet worden. Die Tatsache, dass von den bearbeiteten Widersprüchen mindestens jedem dritten Widerspruch stattgegeben worden ist, zeigt doch, dass es notwendig ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eine aufschiebende Wirkung haben. (Beifall bei der LINKEN) Ansonsten werden Menschen Leistungen unrechtmäßig vorenthalten. Wir reden dabei nicht von Menschen, die ein Polster haben, sondern von Menschen, die ohnehin schon wenig haben. Die Probleme, die Menschen mit Hartz IV haben, sind so ernst, dass wir als Gesetzgeber reagieren müssen. Wir können es uns nicht mehr leisten, uns einfach mit Märchenstunden zu begnügen. Meine Damen und Herren, wenn Sie unserem Antrag aus Prinzipienreiterei nicht zustimmen wollen, so nehmen Sie unseren Antrag wenigstens zum Anlass, um über die dringend notwendigen Veränderungen bezüglich Hartz IV mit uns gemeinsam zu beraten. Besten Dank. (Beifall bei der LINKEN)"