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Soziale Grundsicherung statt sozialer Ausgrenzung

Rede von Katja Kipping,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die soziale Ausgrenzung, die wir alle bedauern, ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern wurde von Wirtschaft und herrschender politischer Klasse in den letzten Jahren massiv befördert.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie waren es doch, die mit der Erleichterung von Minijobs die Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv vorangetrieben haben! Sie waren es doch, die mit Steuererleichterungen für Reiche und Unternehmen auf der einen Seite und mit Leistungskürzungen für die Armen auf der anderen Seite eine Umverteilung in großem Umfang vorangetrieben haben! Nur war das leider eine Umverteilung von unten nach oben.

(Beifall bei der LINKEN)

Da Wirtschaft und Politik die soziale Ausgrenzung selber zu verantworten haben, sind sie jetzt auch in der Pflicht, dagegen vorzugehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Müntefering äußerte im Rahmen der Debatte um die so genannte Unterschicht, man müsse zu den Erwerbslosen auch einmal sagen: Ihr müsst euch anstrengen! Ein solcher Satz erweckt den Eindruck, als ob der fehlende Antrieb bei den Erwerbslosen die Ursache für die Massenarbeitslosigkeit sei. Als ob fünf Millionen offene Stellen in diesem Land darauf warten, dass sich jemand bewirbt! Das Gegenteil ist doch leider der Fall.
Heute ist das Problem doch: Selbst die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, hilft nur noch in den seltensten Fällen weiter.

(Zuruf von der SPD: Na, na, na!)

Erst kürzlich kam ein Erwerbsloser zu mir in die Sprechstunde, der wirklich bereit war, alles zu tun. Er war auch bereit, fünf Tage auf dem Bau mit Überstunden Probe zu arbeiten und das Ganze kostenlos. Das Ende vom Lied war, dass er nach den fünf Tagen des kostenlosen Probearbeitens nach Hause geschickt wurde, damit sein Chef den nächsten Erwerbslosen für fünf Tage kostenloses Probearbeiten anstellen kann.

(Zuruf von der LINKEN: Skandal!)

Die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, führt in der Praxis leider dazu, dass die Leute immer mehr und immer stärker ausgebeutet werden. Ich glaube, an diesem Punkt müssen wir etwas tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Insofern sollten wir mit einer Ideologie nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorsichtig sein. Eine solche Ideologie verschleiert nur den Blick auf die wirklichen, auf die strukturellen Ursachen von Verelendung und Massenarbeitslosigkeit.
Gestern im Ausschuss bekam ich von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP zu hören, Geld allein sei nicht alles. Ja, das stimmt, Geld allein ist nicht alles, aber ganz ohne Geld ist alles andere auch nichts.

(Beifall bei der LINKEN)

Spätestens dann, wenn man am Ende des Monats nicht einmal mehr Geld hat, um sich eine Fahrkarte zu leisten, um zum Erwerbslosentreff zu fahren, schlägt materielle Armut in soziale Ausgrenzung um. Deswegen sind wir gefordert, mehr Geld in die Hand zu nehmen.

(Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Also doch mehr Geld!)

Deswegen brauchen wir endlich eine soziale Grundsicherung in diesem Land, die wirklich für alle Menschen Teilhabe gewährleistet. Das, meine Damen und Herren, sind wir der Demokratie schuldig.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sagen immer, dass Armut vor allem ein Bildungsproblem ist.

(Zuruf von der SPD: Das ist es ja auch!)

Hier möchte ich Sie gern beim Wort nehmen. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Kümmern wir uns um folgende drei Projekte! Nehmen wir folgende drei Projekte gemeinsam in Angriff!
Erstens. Die Kommunen müssen immer stärker sparen. Sie sparen unter anderem, indem sie Kindern von Erwerbslosen den Anspruch auf einen Kitaplatz verweigern. Was bedeutet das in der Praxis? In der Praxis heißt das, dass diese Kinder von klein an das Gefühl des Ausgeschlossenseins erleben, dass sie von der Bildungsinstitution Kindertagesstätte abgeschnitten werden. Von daher sollten wir uns dafür einsetzen, dass es bundesweit für alle Kinder, gerade und besonders für die Kinder von Erwerbslosen, einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gibt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz (Spandau) (SPD))

Zweitens. Immer mehr Kinder gehen ohne ein vollwertiges Frühstück in die Schule. Infolgedessen lässt ihre Lernfähigkeit tatsächlich nach. Mangelhafte Ernährung wirkt sich nämlich negativ auf die Konzentration aus. Ein kostenloses Mittagessen in der Schule für alle, das wäre ein Ansatzpunkt, um nicht nur der Fehlernährung, sondern auch der sozialen Spaltung in der Schule entgegenzuwirken.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Die frühe Aufteilung in Haupt-, Realschule und Gymnasium benachteiligt vor allem Kinder aus den armen Familien. Werben wir in den Ländern also für Gesamtschulen! Denn Skandinavien zeigt: Längeres gemeinsames Lernen kann gleichzeitig den Lernstarken und den Lernschwachen helfen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz (Spandau) (SPD))

Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie nur die Hälfte Ihrer Betroffenheit über soziale Ausgrenzung ernst meinen, dann müssen Sie zu einem grundlegenden Kurswechsel in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik bereit sein. Wer aber nicht bereit ist, über einen grundlegenden Kurswechsel auch in der Wirtschaftspolitik zu reden, der sollte über die angebliche Antriebsschwäche bei der so genannten Unterschicht lieber schweigen.
Besten Dank.

(Beifall bei der LINKEN)