Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kolb, es freut mich, dass Sie Osterspaziergänge machen und Eier suchen.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Es gibt auch gelb-rote Eier!)
Ich habe einen Tipp für Sie: Versuchen Sie es mit einem Spaziergang mit Ihrem Arbeitsminister in Schleswig Holstein Heiner Garg ‑ Mitglied der FDP ‑, der Ihnen in dieser Frage einen Rat gibt. Diesen Rat möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben, weil Sie ihn Ostern vielleicht nicht treffen. Er hat am 7. April dem Tagesspiegel gesagt:
Wenn die FDP näher an die Lebenswirklichkeit heranrücken will, dann müsse sie erkennen, dass es im Niedriglohnbereich ein „echtes Problem“ gebe … Es könne nicht sein, dass es in Deutschland Menschen gebe, die acht Stunden am Tag arbeiten und sich und ihre Familien davon nicht ernähren können. „Zwei Euro Stundenlohn sind weder sozial noch liberal“, sagte Garg. Genauso wenig sei es für einen liberalen Politiker hinnehmbar, dass der Staat Unternehmen dauerhaft subventioniere, die den Wettbewerb mit Niedrigstlöhnen aushebelten.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Mast (SPD))
So weit Ihr Parteifreund, Herr Kolb. Wenn Sie meinem Tipp für einen Spaziergang befolgten, würde das Ihre Partei weiterbringen. Dann müssten Sie kein Personal auswechseln, sondern Sie müssten einfach den Kurs wechseln. Dann kämen Sie einen Schritt weiter.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Realität in unserem Lande ist bedrückend. Das Callcenterunternehmen Teleperformance ‑ offensichtlich eines der Großen der Branche weltweit ‑ hat Niederlassungen in Deutschland und zahlt Löhne zwischen 5,61 Euro und 7,50 Euro. In den ostdeutschen Ländern verdient kaum jemand über 6 Euro, Herr Kolb. Gehaltserhöhungen finden dort seit Jahren nicht mehr statt. Das Unternehmen ‑ diese Information ist an Herrn Weiß gerichtet ‑ ist nicht tarifgebunden. Herr Weiß, die Betreiber von Callcentern haben zwischen 1998 und 2009 ihre Renditen um mehr als 20 Prozent gesteigert. Sie werden übrigens mit 19 Millionen Euro subventioniert. Ich denke, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den niedrigen Löhnen in den Callcentern und den Extraprofiten, die offensichtlich in diesen Unternehmen üblich sind.
Mein nächstes Beispiel ist die Firma KiK, ein Textildiscounter. Diese Firma zahlt Aushilfen Stundenlöhne von 5,20 Euro. Diese Löhne waren sogar dem Arbeitsgericht zu niedrig. Es hat diese für sittenwidrig erklärt. Das Problem ist allerdings: Die Firma hätte mindestens 7,80 Euro zahlen müssen. Hätten wir einen Mindestlohn, und zwar einen flächendeckenden, Herr Weiß, wäre das Risiko, dass die Menschen mit einem solchen Lohn abgespeist werden, bei weitem geringer. Zu den Fragen der Kontrollen komme ich noch. Aber Sie, Herr Weiß, akzeptieren offensichtlich ‑ da Sie keine flächendeckenden Mindestlöhne einführen wollen ‑, dass Niedriglöhne ‑ wie gerade dargelegt ‑ in der Bundesrepublik Deutschland üblich sind und üblich bleiben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sie erlauben eine Zwischenfrage von Herrn Weiß?
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Mit großer Freude.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Weiß. Herr Ernst erlaubt eine Zwischenfrage.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Ernst, Sie haben mich persönlich angesprochen und die Branchen Callcenter und Einzelhandel erwähnt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die dbb tarifunion für Callcenter einen Mindestlohnantrag nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz gestellt hat, der dem Hauptausschuss vorliegt? Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass im Bereich des Einzelhandels die Arbeitgeberseite, der HDE, mit der Arbeitnehmerseite über einen Mindestlohntarifvertrag verhandelt? Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, dass ich mich freuen würde, wenn in beiden Branchen Mindestlohnregelungen in Kraft treten würden?
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Weiß, ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Sie offensichtlich das bestätigen, was ich sage; denn Sie sind nicht bereit, gesetzgeberisch zu handeln. Sie akzeptieren, dass Löhne in dieser Republik gezahlt werden, von denen man nicht Leben kann.
(Manfred Grund (CDU/CSU): Was sind Sie für ein Gewerkschafter!)
Das ist der Skandal in diesem Land. Ihre Partei weigert sich zusammen mit der FDP hartnäckig, dafür zu sorgen, dass die Menschen einen Lohn erhalten, von dem sie leben können. Das nehme ich zur Kenntnis, Herr Weiß.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Und so was sagt ein Gewerkschafter!)
Wir können gern bei Ihrem Argument bleiben. Es ist bekannt, dass der Einstiegslohn im Hotel- und Gaststättengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern bei 5,39 Euro und in Sachsen-Anhalt bei 6,75 Euro liegt. Dort gelten Tarifverträge, in denen offensichtlich so niedrige Löhne festgelegt sind, dass man davon nicht leben kann. Herr Weiß, jetzt können wir so tun, als ob uns das nicht interessierte. Aber wir sind hier nicht nur zum Beobachten und zum Appellieren da; Sie als Regierungspartei sind vielmehr zum Regieren da. Wenn Sie richtig regieren würden, würden Sie solch niedrige Löhne verhindern und dazu beitragen, dass die Menschen Löhne beziehen, von denen sie leben können. Das aber tun Sie nicht, Herr Weiß.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sind mittlerweile relativ isoliert mit Ihrer Position. Am vergangenen Dienstag hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Entschließung mit dem Titel „Bekämpfung der Armut in Europa“ verabschiedet. In dieser Entschließung heißt es in Punkt 5.9 ‑ ich zitiere wörtlich ‑: Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, „durch die Gewährung eines angemessenen Mindestlohns das Recht auf faire Entlohnung zu sichern und das Recht der Arbeitnehmer auf einen Lohn, der ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, anzuerkennen.“ Herr Weiß, diesem Antrag hat auch Ihre Partei, die Mitglied in der Europäischen Volkspartei ist, zugestimmt. ‑ Ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich bei diesem Thema lieber mit Ihrem Nachbarn unterhalten, als sich die Argumente eines politischen Konkurrenten anzuhören.
(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Sie gehen ja auf die Argumente nicht ein! Sie erzählen etwas ganz anderes!)
Ich möchte hinzufügen: Sie sind offensichtlich mit der Position, die Sie einnehmen, auch in der Union vollkommen alleine. Ihr Kollege im Europarat ist offensichtlich schon deutlich weiter; denn Sie werden nicht abstreiten können, Herr Weiß, dass man mit dem Lohn, über den Sie gerade diskutieren, keinesfalls das erreicht, was hier gefordert wird, nämlich den Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.
(Gitta Connemann (CDU/CSU): Ihnen fehlt doch persönlich die Glaubwürdigkeit! ‑ Weiterer Zuruf von der CDU/CSU)
Das ist nur möglich, wenn wir Mindestlöhne in Höhe von mindestens 10 Euro einführen, Herr Weiß. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wissen, dass jeder Lohn unter 9,46 Euro im Ergebnis dazu führt, dass ein Mensch, der diesen Lohn sein Leben lang erhält, eine Rente bezieht, die unter der Grundsicherung im Alter liegt. Bei 9,46 Euro ist die Grenze. Wir wissen, dass ‑ je nach Arbeitszeit ‑ bei 7,50 Euro oder 7,80 Euro die Grenze ist, unterhalb derer man einen Lohn bekommt, den man aufstocken muss. Die Löhne vieler Menschen in unserem Land liegen darunter. Sie akzeptieren, dass Arbeitgeber Löhne zulasten Dritter vereinbaren können. Denn wenn die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Löhne zahlen muss, oder die Löhne so niedrig sind, dass der Staat die Renten zahlen muss, handelt es sich um Löhne und Vereinbarungen zulasten Dritter, die aus meiner Sicht als sittenwidrig abgelehnt gehören. Das ist die Situation, in der wir uns befinden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sigmar Gabriel (SPD))
Meine Damen und Herren, ein Thema, das in diesem Zusammenhang auch noch von Bedeutung ist, sind die Kontrollen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das Landgericht Magdeburg im Juni 2010 einen Reinigungsunternehmer zu nur 1 000 Euro ‑ nur 1 000 Euro! ‑ Geldstrafe verurteilt hat, weil er statt des Mindestlohns von damals 7,68 Euro einen Stundenlohn von weniger als 1 Euro gezahlt hat. Bei einer solch geringen Bestrafung von Leuten, die Hungerlöhne offensichtlich für akzeptabel halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sich der Niedriglohnsektor ausweitet und dass sich ein Teil unserer Bürger an Gesetze, die hier verabschiedet werden, nicht mehr hält. Wir brauchen drastische Strafen für die Menschen, die Hungerlöhne zahlen. Dafür treten wir Linken ein.
(Beifall bei der LINKEN)
Besonders betroffen sind Frauen. Sie sind deshalb besonders betroffen, weil sie nach wie vor die schlechteren Jobs haben und nach wie vor schlechter bezahlt werden. Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat verdienen, sind Frauen. Ich wiederhole: Zwei von drei Beschäftigten, die unter 1 000 Euro im Monat verdienen, sind Frauen. Frau von der Leyen, Sie machen sich immer für die Frauenrechte stark; das begrüßen wir. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn könnten Sie dazu beizutragen, dass einer Vielzahl von Frauen in diesem Land wenigstens ein anständiger Lohn gezahlt wird.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
33 Prozent aller weiblichen Vollzeitkräfte sind Geringverdienerinnen. 33 Prozent aller weiblichen Vollzeitbeschäftigten! Das ist eine unglaubliche Zahl. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass man sich auf der einen Seite berechtigterweise für einen höheren Frauenanteil in den oberen Etagen unserer Wirtschaft starkmacht, aber gleichzeitig offensichtlich den Blick nach unten vollkommen vergisst. Dass insbesondere Frauen mit Hungerlöhnen abgespeist werden, ist ein Skandal, genauso wie die Tatsache, dass Sie das akzeptieren, Frau von der Leyen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ein weiteres Argument. Wir haben 6,7 Millionen atypisch Beschäftigte in unserem Land. 6,7 Millionen! 74 Prozent davon sind Frauen. Frau von der Leyen, es ist nicht akzeptabel, dass Sie in diesem Bereich schlichtweg nur durch Zuschauen glänzen. Ich möchte Ihnen sagen: Wir isolieren uns nicht nur in Europa ‑ in Luxemburg gibt es einen Mindestlohn von 10,16 Euro; in Frankreich liegt er bei 9 Euro ‑, sondern auch weltweit. In Australien liegt der Mindestlohn bei 10,40 Euro. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland befürworten die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, übrigens auch 61 Prozent der Selbstständigen. Warum? Weil es inzwischen auch die Selbstständigen satthaben, von einer Schmutzkonkurrenz von Unternehmen bedroht zu werden, die Niedrigst- und Billigstlöhne zahlen. Tun Sie etwas dagegen!
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sind Regierungspartei, also appellieren Sie nicht, sondern regieren Sie. Es wird Zeit, dass wir endlich Ergebnisse sehen.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Paul Lehrieder (CDU/CSU): Also, die Rede hat Sie nicht gerettet!)