Zum Hauptinhalt springen

Paradigmenwechsel in der Pflege bleibt aus

Rede von Pia Zimmermann,

Das zweite Pflegestärkungsgesetz weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden können.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen!

Wir haben uns unsere Entscheidung nicht leicht gemacht, zumal solch ein Gesetz schon lange gefordert wird - auch von uns. Das möchte ich insbesondere all denen sagen, die sich wundern, dass wir ein Gesetz zur Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes ablehnen. Ich selber habe viele Jahre in der Pflege gearbeitet und weiß, was für eine gute, umfängliche Pflege nötig ist. Sie haben hier zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine ganzheitliche Sichtweise auf die Menschen beinhaltet: auf ihre körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten. Es geht um ein Gesetz, durch das die ungleiche Behandlung von Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen abgestellt werden soll. Aber es ist ein janusköpfiges Gesetz. Es verbessert und verschlechtert zugleich, weil Sie, Herr Minister Gröhe, nicht bereit sind, die Grunddefizite der Pflegeversicherung, nämlich die Finanzierung und das Teilleistungssystem, zu verändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Reform geht auf Kosten von Menschen in den unteren Pflegegraden und schränkt deren Wunschfreiheit – wo, wie und von wem sie gepflegt werden wollen – weiter ein. Herr Minister Gröhe, da steigen im zukünftigen Pflegegrad 2 die Leistungen für die ambulante Pflege um 221 Euro. In der stationären Pflege sinken sie zugleich um 300 Euro. Das sind 3 600 Euro mehr, die pro Jahr aufgebracht werden müssen, und das ist ungerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine alleinlebende ältere Frau mit Pflegegrad 2, die ins Pflegeheim möchte, weil sie Kontakt zu anderen Menschen haben möchte, weil sie die Einsamkeit belastend findet und weil sie immer dann Hilfe haben möchte, wenn sie Hilfe braucht, muss nicht nur 2 065 Euro für einen Platz im Pflegeheim aufbringen, sondern auch noch monatliche Investitionskosten in Höhe von 400 Euro. Die Pflegeversicherung übernimmt von diesen Kosten zukünftig nur noch 770 Euro. Ich frage Sie ernsthaft: Wo bleibt die Wahlfreiheit dieser Frau, wenn sie 1 700 Euro netto Rente haben muss, um nicht in die Sozialhilfe zu rutschen? Das ist unerhört, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie viele Menschen haben eine solche Rente? Menschen mit Pflegebedarf werden so in Armut getrieben. Da sagen wir Linke ganz klar Nein.

(Beifall bei der LINKEN)

Darüber hinaus fehlt es in dem Gesetzentwurf an Maßnahmen, die die Bedingungen für die Pflege im Alltag so gestalten, dass teilnahmeorientierte Pflege, wie sie im neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angelegt ist, möglich wird. Konkret: Ein inkontinenter Mann schafft es mit Assistenz zur Toilette. Beim Hinsetzen und Aufstehen, beim An- und Auskleiden braucht er Hilfe von 15 Minuten. Im Rahmen des neuen Begutachtungsverfahrens wird ein Unterstützungsbedarf festgestellt; das Ziel ist Selbstständigkeit. Das ist ein weiterer Fortschritt. Aber an dieser Stelle hört der Gesetzentwurf auf; denn ob die assistierende Person überhaupt verfügbar ist, darüber entscheiden Sie erst 2020 - vielleicht!

(Mechthild Rawert (SPD): Das stimmt doch gar nicht!)

Meine Damen und Herren, wissen wir hier im Haus, wie es ist, eigentlich noch selbstständig zur Toilette gehen zu können und dennoch eine Windelhose tragen zu müssen, weil die Zeit fehlt? Die Zeit wird weiter fehlen, weil es keine zusätzlichen Pflegekräfte gibt; denn sie sind in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vorgesehen. Es ist bekannt, dass wir solche Situationen schon viel zu oft haben. Mit diesem Gesetzentwurf suggerieren Sie, dass sich daran etwas ändern wird. Sie erwecken Erwartungen, die nicht erfüllt werden können. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Zweite Pflegestärkungsgesetz ist letztendlich eine Begutachtungs- und bestenfalls eine Bedürftigkeitsreform - kein großer Wurf, kein Wechsel hin zur inklusiven und teilhabenden Pflege. Wir LINKE sagen: Die konkrete Lebenssituation aller an der Pflege beteiligten Menschen - der Menschen mit Pflegebedarf, der Angehörigen, die pflegen, auch der Menschen, die professionell pflegen - muss sich verbessern. Menschen mit unterschiedlichen Pflegebedarfen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Genau das machen Sie, meine Damen und Herren, und darum stimmen wir mit Nein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)