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Optimierungsgesetz Hartz IV erweitert Diskriminierung

Rede von Katja Kipping,

Es gibt keine Kostenexplosion durch Missbrauch. Das Einzige, was es gibt, ist eine Verschiebung der Zahlungen. Früher zahlte man Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe, heute zahlt man Kosten für Unterkunft und Arbeitslosengeld II. Ihre Unterstellung des Missbrauchs ist nicht haltbar und nicht durch Zahlen belegt. Mit moderner Sozialpolitik hat die Sozialspitzelei, die die Bundesregierung jetzt praktiziert, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Wir brauchen nicht mehr Sozialspitzel, sondern mehr sorgfältige Beratung und mehr Vermittlung von Erwerbslosen. Katja Kipping in der Debatte zum Optimierungsgesetz Hartz IV.

"Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brauksiepe, man will Ihnen Ihre dicken Krokodilstränen, die Sie darüber vergießen, dass es Ihnen schwer fällt, bei den Erwerbslosen zu kürzen, nicht so richtig abnehmen, insbesondere wenn man daran denkt, dass Sie bereitwillig immer wieder in Missbrauchsdebatten einstimmen und Erwerbslose als Sozialschmarotzer darstellen. (Beifall bei der LINKEN) Ganz unabhängig davon, wie man diesen Gesetzentwurf nennt, wollen wir eines festhalten: Das Einzige, was hier optimiert wird, ist die Diskriminierung von Erwerbslosen und die Verfolgungsbetreuung. (Beifall bei der LINKEN) Hier soll die zentrale These fortentwickelt werden - das ist das alte Trauerspiel -, dass Erwerbslose schuld an der Massenarbeitslosigkeit sind. Damit werden sie zu Sündenböcken gemacht. Wenn das nicht so verdammt traurig für die Betroffenen wäre, dann könnte man fast darüber lachen. Diese Masche ist wirklich nicht neu. Zwar enthält der vorliegende Gesetzentwurf auch einige kleine Verbesserungen. Das ändert aber nichts daran, dass es im Kern um die Verschärfung von Hartz IV geht. Von den vielen Sauereien dieses Gesetzes möchte ich auf drei zentrale Gemeinheiten eingehen. Im Kern geht es hier um nichts anderes als um die Fortführung einer Verdächtigungskampagne gegenüber Erwerbslosen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es spricht im Original Rosa Luxemburg!) In den letzten Tagen häufen sich die Meldungen, dass es zu Kostenexplosionen kommt. Das geht mit der Unterstellung einher, die Ursache dafür sei Missbrauch. Wir wollten diesen Meldungen auf den Grund gehen und haben beim zuständigen Bundesministerium nachgefragt, wie hoch die Zahlungen im alten System für Erwerbslose ausgefallen sind, wie viel man für Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe ausgegeben hat. Es gibt eine Berechnung aus Ihrem Haus, Herr Andres, die besagt, dass dann, wenn man das alte System beibehalten hätte, im Jahr 2005 35,5 Milliarden Euro für Erwerbslose ausgegeben worden wären. Im letzten Jahr sind nach dem neuen System gerade einmal 1,8 Milliarden Euro mehr als im alten System ausgegeben worden. Davon sind 1,4 Milliarden Euro auf die Erhöhung der Rentenzahlung zurückzuführen. Im Klartext heißt das: Es gibt keine Kostenexplosion durch Missbrauch. Das Einzige, was es gibt, ist eine Verschiebung der Zahlungen. Früher zahlte man Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe, heute zahlt man Kosten für Unterkunft und Arbeitslosengeld II. Ihre Unterstellung des Missbrauchs ist nicht haltbar und nicht durch Zahlen belegt. (Beifall bei der LINKEN) Für die zweite Sauerei (Rolf Stöckel [SPD]: Warum ist das eine Sauerei?) sorgt der Außendienst, der die Lebenssituation von Arbeitslosengeld-II-Empfängern untersuchen soll. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Was ist das für eine Ausdrucksweise? Bitte verschonen Sie uns damit! Nicht zu fassen!) Im Clement-Report wurde sehr anschaulich dargestellt, wie Sozialspitzel losgeschickt werden, um bei allein erziehenden Erwerbslosen nachzuschauen, ob sie nicht doch einen Freund haben, den man finanziell in Haft nehmen kann. Einige Sozialspitzel gingen sogar in die Schlafzimmer, um zu schauen, wie groß die Kuhle im Bett ist, um nachzuweisen, dass man dort doch zu zweit geschlafen hat. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das haben sie von der Stasi gelernt!) Ich meine, im Schlafzimmer hat der Staat nichts zu suchen. Das ist so und das soll so bleiben. (Beifall bei der LINKEN - Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wie war das denn in der DDR?) - Wir haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich möchte Ihnen sagen: Alle Versuche, die Privat- und Intimsphäre von Menschen auszuspionieren, sollten in Filmen wie "Das Leben der Anderen" unternommen werden. (Klaus Brandner [SPD]: Das ist aber besonders glaubwürdig, Frau Kipping! Das ist die Spitze an Glaubwürdigkeit!) Mit moderner Sozialpolitik hat die Sozialspitzelei, die Sie jetzt praktizieren, nichts, aber auch gar nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen eben nicht mehr Sozialspitzel, sondern mehr sorgfältige Beratung und mehr Vermittlung von Erwerbslosen. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Wir brauchen aber auch keinen Neosozialismus!) Die dritte zentrale Gemeinheit, die ich ansprechen möchte, ist die Beweislastumkehr bei den Bedarfsgemeinschaften. Hier setzen sie den Hebel am Rechtsstaat an; hier werden rechtsstaatliche Grundsätze geopfert. Heute gilt: Wer nur ein Jahr zusammen wohnt, der lebt schon in einer Bedarfsgemeinschaft. Damit wird jede Wohngemeinschaft zu einer Bedarfsgemeinschaft. (Rolf Stöckel [SPD]: Gibt es ja gar nicht!) Beispielsweise in meiner WG leben vier Personen. Was ist, wenn jetzt einer meiner Mitbewohner arbeitslos wird? Heißt es dann, einer von uns muss ausziehen, damit er keiner Bedarfsgemeinschaft zugeordnet wird? (Dr. Karl Addicks [FDP]: Helfen Sie dem! Das wäre echte Solidarität! - Dirk Niebel [FDP]: Sie verdienen doch ordentlich! Helfen Sie ihm doch!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Katja Kipping (DIE LINKE): Heute hat ein CDU-Minister in NRW gesagt: Wenn zwei Personen zusammenleben, von denen eine erwerbslos ist, dann müssen sie beweisen, dass sie kein Liebespaar sind. Ich frage Sie: Wie soll man das beweisen? (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Bei uns beiden wäre das klar!) Müssen Erwerbslose in Zukunft Kameras in ihren Schlafzimmern installieren? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern. Katja Kipping (DIE LINKE): Ich komme zum Ende. - Ich sage nur noch: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit moderner Sozialpolitik zu tun. Anstatt die Situation von Bedarfsgemeinschaften zu verschärfen, brauchen wir eine soziale Sicherung, die konsequent vom Einzelnen ausgeht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, das wäre ein gutes Ende gewesen. Katja Kipping (DIE LINKE): Diesem Gesetzentwurf muss man Widerstand im Parlament und außerhalb des Parlaments entgegensetzen. Deswegen können wir allen nur empfehlen, am 3. Juni zur Demonstration nach Berlin zu kommen, um - - (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, was Sie im Augenblick machen, finde ich nicht in Ordnung. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Ja, wir auch nicht!)"