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Opfern des PIP-Skandals helfen - Abschaffung des Selbstverschuldens-Paragraphen

Rede von Harald Weinberg,

Wir fordern: Alle medizinisch notwendigen Leistungen muss die Kasse zahlen!

Die Rede ging zu Protokoll.

Sehr geehrte Damen und Herren,

stellen Sie sich vor, Sie spielen in einer Hobby-Mannschaft auf dem Bolzplatz Fußball und brechen sich das Bein. Wer kommt dann für die Behandlungskosten auf? Die Gesetzliche Krankenversicherung. Stellen Sie sich vor, Sie fahren Auto, haben es eilig, beachten nicht die Höchstgeschwindigkeit und verursachen einen Unfall. Auch hier zahlt die Gesetzliche Krankenversicherung selbstverständlich Ihre Behandlung, auch wenn Sie an dem Unfall selbst schuld waren. Gleiches gilt für die Behandlungskosten von Übergewichtigen, Rauchern, Menschen, die sich ungünstig ernähren, Radfahrern und Motorradfahrern, Kletterern, Menschen die zu viel oder zu wenig Sport machen oder nach Alkoholkonsum gestolpert und hingefallen sind. Sie sehen selbst: Diese Liste könnte man noch sehr lange fortsetzen. Fast jeder gehört zu einer Gruppe, die selbst eine Verantwortung für das eigene Leid trägt und trotzdem zahlt die Kasse die Rechnung.

Denn ein Grundprinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass sie nicht nach dem Schuldigen für eine Verletzung oder Erkrankung fragt, sondern schlicht nach dem Bedarf.

Es gibt aber mittlerweile drei Ausnahmen, bei denen die Versicherten an den Kosten beteiligt werden: Erstens bei Folgeerkrankungen von Tätowierungen, also Entzündungen oder Unverträglichkeiten. Man muss ja Tätowierungen nicht gut finden, aber immerhin 25 Prozent der 16- bis 29jährigen haben Tätowierungen. Zweitens bei Folgeerkrankungen von Piercings. Da sind es vor allem Minderjährige, die da an den Kosten beteiligt werden sollen, zumal nach einer 2008 veröffentlichten Studie über die Hälfte der Gepiercten unter 18 Jahren sind. Ein Jugendparlament jedenfalls hätte einer solchen Diskriminierung von Gepiercten sicher nicht zugestimmt.

Und der dritte Bereich, wo Versicherte für ihr Verhalten an den Kosten beteiligt werden sollen, sind Schönheits-Operationen. Der PIP-Skandal war ja zu Recht überall in den Medien zu finden. PIP, das war eine Firma, die die Kontrollbehörden, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sowie die Patientinnen betrogen hat. Das war kriminell, das muss man ganz klar sagen.

Den betrogenen Frauen nützt diese Feststellung jedoch wenig. Denn die Firma ist pleite, da ist nichts zu holen. Sie haben diese Implantate - bestehend aus billigem und gefährlichem Industriesilikon und einer mangelhaften Hülle - im Körper. Die zuständigen Behörden empfehlen, die Implantate zu entfernen. Das kostet tausende Euro! Die übernimmt zwar die Krankenkasse. Sie ist aber nach dem Selbstverschuldensparagraphen gezwungen, die Patientinnen an den Kosten zu beteiligen, denn sie sind ja selbst schuld, dass die Implantate überhaupt eingesetzt wurden. DIE LINKE findet das falsch!

Niemand soll an den Kosten einer medizinisch notwendigen Behandlung beteiligt werden, schon gar nicht Betrugsopfer! Der Fall PIP zeigt eindrücklich, wie absurd diese Regelung ist. Deswegen fordern wir in dem Antrag, der hier zur Debatte steht, dass diese Regelung abgeschafft wird.

Eines gilt es dabei aber zu bedenken: Brustimplantate beispielsweise, haben, wie viele Implantate, eine begrenzte Haltbarkeit. Ist diese überschritten, z.B. zehn Jahre nach der Operation, spätestens aber wenn das Implantat defekt ist, dann wird es medizinisch notwendig, es zu tauschen und dann müsste im Zweifel die Gesetzliche Krankenversicherung die Entnahme oder gar den Austausch zahlen. Wir wollen aber nicht, dass die Implantathersteller an einer einmal auf eigene Kosten operierten Frau lebenslang auf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung neue Implantate einsetzen können und damit Profit machen. Die Gesetzliche Krankenversicherung darf nicht zum Finanzier der Schönheits-OP-Industrie werden. Deshalb fordern wir Regelungen, die dazu führen, dass weder die Frau, noch die Gesetzliche Krankenversicherung für Folgeoperationen aufkommen muss. Denkbar wäre da z.B., dass die Hersteller und die Ärzteschaft eine lebenslange Garantie gewährleisten müssen, die über eine Versicherung abgesichert ist. Es gibt sogar schon einen Hersteller, der das anbietet, wie wir im Ausschuss gehört haben. Das wäre ein Anreiz, hochqualitative Produkte herzustellen, die lange halten.

Zurück zur Selbstverschuldensregelung: Aus unserer Sicht widerspricht sie dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und ist damit verfassungswidrig. Das will ich begründen: Die Regelung sollte bei ihrer Einführung 2007 alle medizinisch nicht notwendigen Körperveränderungen, wie z.B. Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen umfassen. 2008 merkte die große Koalition, dass damit ja auch jeder Ohrring gemeint wäre und schlimmstenfalls auch jeder Übergewichtige und jede Raucherin. Still und heimlich änderte man den Paragraphen. Nun waren es nur noch diese drei Gruppen, die belastet werden sollten. Das aber ist juristisch eine Ungleichbehandlung, die Artikel 3 des Grundgesetzes widerspricht.

Denn ein Gesetz darf nicht gleiche Sachverhalte bevor- oder benachteiligen. Das tut das Gesetz aber: Brandings, also das Einbrennen von Symbolen oder Schriftzeichen auf der Haut, Subdermals, also Metalle, die unter die Haut eingebracht werden, Cuttings, also bewusst herbeigeführte Schnittmuster oder auch tongue cutting, also das Aufspalten der Zunge, damit sie amphibisch anmutet, sind mit piercings durchaus zu vergleichen oder sogar noch größere, spektakulärere und weniger gesellschaftlich übliche Techniken. Trotzdem zahlt hier die Kasse vollständig für Folgeerkrankungen. Das widerspricht dem Gleichheitsgebot.

Ebenso werden Kosten für die Behandlungen von Entzündungen aufgrund eines Ohrrings wohl übernommen und er zählt im Sinne des Selbstverschuldensparagraphen nicht als Piercing. Auch das widerspricht dem Gleichheitsgebot. Wenn jemand lieber einen Augenbrauenring oder einen Ring in der Lippe mag, warum sollte der dann bei der Krankenversicherung gegenüber Ohrringträgern benachteiligt werden? Was man sich auch fragen kann: Gilt diese Ausnahme eigentlich für das ganze Ohr, also auch den Knorpel oder aber nur für das Ohrläppchen?

Und noch ein weiteres Problem spricht gegen den Selbstverschuldensparagraphen. Damit die Kassen den Patientinnen und Patienten überhaupt eine Rechnung präsentieren können, muss der Arzt den Kassen mitteilen, dass der Patient z.B. ein Genitalpiercing hat. Ich meine: das geht eindeutig zu weit und geht niemanden außer den Arzt etwas an! Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird hier verletzt. Selbst wenn es möglich wäre, eine gleichheitskonforme Selbstverschuldensregelung zu schaffen, die DIE LINKE generell ablehnt, dann wäre immer noch die Verpflichtung des Arztes zur Mitteilung an die Krankenkasse grundrechtswidrig.

Wenn dieser Antrag von einer Mehrheit des Hauses abgelehnt wird, dann wäre zu wünschen, dass eine der tausenden Opfer des PIP-Skandals gegen diese Regelungen bis vor das Bundesverfassungsgericht klagt. Die Aussicht auf Erfolg ist überaus gegeben.