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Norbert Müller: Regierung versagt gegenüber Kindern und Jugendlichen

Rede von Norbert Müller,

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst – das mache ich in Reden selten – einen Dank aussprechen, nämlich einen Dank an die Kolleginnen und Kollegen von FDP, von Grünen und auch meiner eigenen Fraktion; denn ohne uns im Deutschen Bundestag wäre seit einem Jahr über die Situation von Kindern und Jugendlichen nahezu gar nicht gesprochen worden.

(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ohne Anträge der demokratischen Oppositionsfraktionen hätte das, was wir heute diskutieren, hier überhaupt keine Rolle gespielt.

Dann will ich ein weiteres Mal sagen: Ich finde es, ehrlich gesagt, inzwischen befremdlich, dass die Bundesjugendministerin bei diesen Debatten grundsätzlich fehlt.

(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Ministerin Karliczek, vielleicht richten Sie Ihrer Kabinettskollegin aus: Der Job der Bundesjugendministerin ist, sich jetzt um die Situation von Kindern und Jugendlichen zu kümmern und nicht um die Abgeordnetenhauswahl von Berlin. Sie ist noch nicht Regierende Bürgermeisterin. Ihr Platz ist hier in diesen Debatten.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kollege Rix, ich finde es super, dass die SPD-Fraktion ein 2‑Milliarden-Programm für die Jugendverbände, für die Jugendsozialarbeit, für die Kinder- und Jugendarbeit anstrebt. Das könnt ihr ganz einfach haben; den entsprechenden Antrag haben wir heute zur Abstimmung im Verfahren. In einer halben Stunde können alle Fraktionen über diesen Antrag abstimmen. Wir beantragen heute ein 2‑Milliarden-Programm für die Kinder- und Jugendarbeit, für die Jugendverbandsarbeit und für die Jugendsozialarbeit. Es wäre ein starkes Signal der SPD-Fraktion, unserem Antrag zuzustimmen. Dann müsst ihr nicht nur darüber reden, wenn die FDP mal wieder eine solche Debatte beantragt; ihr könntet heute direkt handeln.

(Beifall bei der LINKEN – Saskia Esken [SPD]: Das haben wir gestern schon beschlossen!)

Aber es gibt natürlich auch Punkte, die FDP, Grüne und uns trennen. Wir waren uns sehr früh einig – da hat die Regierung noch gepennt –: Wir brauchen Teststrategien. Wir waren uns sehr früh einig – da hat die Regierung noch gepennt –: Wir brauchen Strategien für die Kitas. Aber wir haben unterschiedliche Sichtweisen. Kollege Brandenburg, ich habe Ihren Antrag aufmerksam gelesen. Ich finde es richtig, auf die Situation von jungen Leuten hinzuweisen, bei denen jetzt Abiball und Auslandssemester, Ersti-Party ausgefallen sind. Ich finde es auch völlig nachvollziehbar, dass Sie sagen: Diese Entwicklungsschritte können sie nicht mehr aufholen. – Ja, das stimmt. Ich finde, das ist extrem schade für diese jungen Menschen.

Aber das betrifft eben nur einen Teil dieser Generation. Was bei Ihnen überhaupt nicht auftaucht – das ist bei der FDP immer so ein bisschen unterbelichtet –, ist, dass von 14 Millionen Jugendlichen knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche in Hartz-IV-Haushalten und noch mal 2 Millionen in verdeckter Armut leben. Diese jungen Menschen machen in der Regel kein Abitur, sie brauchen über ein Auslandssemester im Master-Studiengang überhaupt nicht nachzudenken, maximal in Ausnahmefällen. Deren Realität vor einem Jahr war, dass aufgrund der Gedankenlosigkeit der Bundesregierung im ersten Lockdown, im März und April 2020, das kostenlose Mittagessen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket über Nacht nicht mehr da war. Die Eltern wussten im März 2020, als der Monat noch sehr lang, aber kein Geld mehr da war, nicht, wie sie zu Hause das Essen bezahlen sollten. Diese Kinder gehen seit Jahren nicht zu Kindergeburtstagen, weil die Eltern nicht wissen, wie sie die Geschenke finanzieren sollen. Familienurlaube finden zu Hause statt und nicht im Ausland. Ich finde, über diese Jugendlichen müssen wir dann auch noch mal reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Und sie haben im Übrigen ein höheres Infektionsrisiko, weil ihre Wohnsituationen in der Regel außerordentlich beschissen sind: Sie leben in kleinen Wohnungen, wo man eng aufeinandersitzt, und nicht im Einfamilienhaus mit großem Garten.

Ja, wir haben eine Vielzahl an Maßnahmen hierzu beantragt: eine digitale Grundsicherung, wir haben Pandemiezuschläge zur Grundsicherung gerade für diese Familien beantragt. Das ist hier abgelehnt worden, auch mit den Stimmen der FDP. Ich finde, das wären wichtige Punkte gewesen; aber der Zug ist noch nicht abgefahren. Die Pandemie wird uns noch eine Weile plagen. Wir brauchen endlich Unterstützung für diese Familien,

(Beifall bei der LINKEN)

weil sie zum Beispiel Tests kaufen müssen – die sind ja nicht überall kostenlos –, weil sie zum Beispiel nach wie vor Masken erwerben müssen – das ist in den Grundsicherungsregelsätzen immer noch nicht ausreichend abgebildet –; deswegen brauchen wir für diese Familien spezielle Unterstützung. Stattdessen sind nach wie vor wichtige Hilfesysteme für Familien ausgebremst. Wir brauchen jetzt eine Perspektive für junge Leute.

Ich habe zur Teststrategie schon was gesagt. In Richtung rechts außen sage ich: Die demokratischen Fraktionen sind sich einig:

(Martin Reichardt [AfD]: Da sind Sie nicht dabei! Von was reden Sie denn?)

Der Weg, Schulen offen zu halten, ist das Testen. Und wenn Kinder und Jugendliche zweimal die Woche verbindlich in Schulen getestet werden – über Kitas können wir vielleicht auch noch reden –, dann gibt es keinen Grund mehr, Jugendhäuser zu schließen, dann gibt es keinen Grund mehr, die Jugendverbandsarbeit auszubremsen, dann gibt es keinen Grund mehr, Jugendsport auszubremsen. Wenn wir die Gewissheit haben, dass Schülerinnen und Schüler zum Beispiel zweimal die Woche verbindlich getestet werden, dann müssen sie die Chance haben, zu ihrer Jugendgruppe in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt zu gehen, dann müssen sie auch die Chance haben, wieder in den Jugendclub zu gehen, natürlich unter Einhaltung entsprechender Hygienemaßnahmen,

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

und sie müssen auch wieder die Chance haben, ihrem Vereinssport nachzugehen. Dafür ist das Testen der zentrale Schlüssel.

In Richtung der AfD sage ich: Also, zu behaupten, die Pandemie würde herbeigetestet und dass die Pandemie erst entstehen würde, wenn jetzt Millionen Schülerinnen und Schüler zweimal pro Woche getestet würden, ist doch völlig verrückt. Wie kann man auf so eine Idee kommen?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Bettina Margarethe Wiesmann [CDU/CSU] und Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP])

Sie sagen doch jemandem mit Bluthochdruck auch nicht: Wenn er aufhören würde, regelmäßig seinen Blutdruck zu messen, dann würde die Erkrankung auf einmal aufhören und alles wäre gut. – Irgendwann kippt der Mensch um. Das ist das Problem!

(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

– Also, jetzt rufen Sie schon wieder dazwischen. Sie sind doch die Fraktion, die immer alles wissen will. Sie wollen wissen, wer über die Grenzen ein- und ausreist, Sie wollen am liebsten wissen, welche Menschen welche sexuellen Neigungen haben. Das wollen Sie immer alles wissen!

(Zuruf des Abg. Stefan Keuter [AfD])

Aber was Sie nicht wissen wollen, ist – da reden Sie dann von Bevölkerungsschutz –, dass Menschen mit einem gefährlichen Virus unter uns sind, in Schulen gehen und möglicherweise Lehrerinnen und Lehrer, möglicherweise sogar Angehörige von Risikogruppen oder andere Kinder anstecken, die zu Hause vielleicht zu pflegende Großeltern haben. Das wollen Sie nicht mehr wissen, da scheißen Sie dann auf den Bevölkerungsschutz. Ich finde das völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

Nein, bitte nicht, Herr Präsident!

(Petr Bystron [AfD]: Angst! Jetzt sind Sie ängstlich!)

Wenn wir schon beim Testen sind: Ja, ich verstehe Lehrerinnen und Lehrer, die sagen: Also, wir haben jetzt teilweise drei Lerngruppen gleichzeitig unterrichtet, diejenigen im Präsenzunterricht, diejenigen im Präsenzunterricht ohne Präsenzpflicht, die zu Hause sind, und diejenigen im Homeschooling. Wir sind jetzt nicht auch noch die Gesundheitsfachkräfte, wir wollen nicht testen. – Mein Sohn hat gestern eine Tüte mit Tests mitgebracht mit einem schlecht kopierten Zettel dazu. Ich verstehe auch die Eltern, die sagen: Also Leute, wir sollen jetzt auch noch testen, was denn eigentlich noch alles? Wir waren jetzt beste Freunde, Lehrer; das wird mit der Zeit ein bisschen viel.

Das verstehe ich alles; das ist ein gutes Beispiel. Deswegen sage ich: Nach der Pandemie darf es nicht so werden wie vor der Pandemie. Wir brauchen in Schulen Gesundheitsfachkräfte wie in Österreich. Wir brauchen in Schulen eine ganz andere Ausstattung,

(Martin Reichardt [AfD]: Sie brauchen vor allem Arbeitsplätze für Abgeordnete, die ihr Studium nicht beenden!)

damit wir endlich pandemiesicher sind und nicht wieder in Zustände geraten wie vor einem Jahr, über die wir immer noch nicht hinweg sind.

Vielen Dank!

(Beifall bei der LINKEN)