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Norbert Müller: Kindergrundsicherung statt Volksgemeinschaftsfamilienpolitik

Rede von Norbert Müller,

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD beschäftigt das Parlament mal wieder mit dem, was sie für Familienpolitik hält oder zumindest so nennt.

(Beatrix von Storch [AfD]: Korrekt!)

Im Grunde, Frau von Storch, ist Ihre Familienpolitik oder Ihre Grundannahme: Die Deutschen sterben aus – das hat Herr Reichardt gesagt –, es werden viel zu wenig Kinder geboren, die Regierung – da gehören wir nicht dazu – schleust in Horden Ausländer ein, die das deutsche Volk umvolken, und der Great Reset droht.

(Martin Reichardt [AfD]: Steht nirgendwo drin!)

– Das haben Sie alles in Ihrer Rede gebracht. – Meine Damen und Herren, das ist im besten Fall deutschtümelnde Bevölkerungspolitik, im allerschlechtesten Fall ist es einfach nur Verschwörungsquatsch, den Sie hier offenbart haben. Darauf bauen Sie eine ganze Familienpolitik auf. Das kann man doch hier nicht anbieten!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu sage ich Ihnen – das habe ich Ihnen schon mehrmals gesagt, auch hier an dieser Stelle –: Die Geburtenzahlen sind so hoch wie seit Mitte der 80er-Jahre nicht mehr.

(Martin Reichardt [AfD]: Aber immer noch viel zu niedrig!)

Was erzählen Sie hier denn überhaupt? Es werden überall mehr Kinder geboren. Es fehlen über 300 000 Kitaplätze.

(Martin Reichardt [AfD]: Bringen Sie erst einmal Ihr Studium zu Ende, ehe Sie über Zahlen reden!)

Die fehlen nicht, weil Familien zugewandert sind; die fehlen, weil in Deutschland mehr Kinder geboren werden. Darüber kann man sich ja mal freuen, anstatt zu behaupten, dass die Deutschen umgevolkt werden. Was für ein Schwachsinn!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber das sind ja nicht die richtigen Kinder, die hier geboren werden. Nein, für die AfD – das hat der Kollege Schrodi gerade deutlich dargestellt, herzlichen Dank für diese Rede – sind Kinder, die geboren werden, dann die richtigen Kinder, wenn sie eine deutsche Mutter und einen deutschen Vater haben; die deutsche Mutter bleibt am besten zu Hause, spätestens ab der Geburt des ersten Kindes. Es sind auch nur dann die richtigen Kinder, wenn die Familie ein hohes Einkommen hat. Das sind die Kinder, die Sie gerne hätten. Für alle anderen interessieren Sie sich nicht. Das machen Ihre Anträge deutlich. Regenbogenfamilien tauchen bei Ihnen nicht auf. Zu Alleinerziehenden haben Sie gerade was gesagt, ja; aber da haben Sie ein Hintertürchen eingebaut. Ich zitiere mal aus Ihrem Wahlprogramm von 2017 – das gilt ja möglicherweise noch –:

(Martin Reichardt [AfD]: Nein, das gilt nicht mehr! Das ist in Dresden erneuert worden!)

"Der Vorteil einer besonderen Unterstützung durch die Solidargemeinschaft sollte nur denjenigen Alleinerziehenden gewährt werden, die den anderen Elternteil nicht aus der Teilhabe an der Erziehungsverantwortung und praktischen Erziehungsleistung hinausdrängen."

(Martin Reichardt [AfD]: Sie würden besser aus Ihrem eigenen Programm zitieren!)

Was aus Ihrem Wahlprogramm spricht, ist ein massives Misstrauen gegenüber Alleinerziehenden. Die Kollegin Tillmann hat es gerade deutlich gesagt: Was wollen Sie hier überhaupt? Sie sagen: Ja, Sie haben jetzt ein Herz für die Alleinerziehenden entdeckt. – Das einzige Herz, das Sie für die Alleinerziehenden entdeckt haben, ist Misstrauen, Misstrauen, Misstrauen!

(Martin Reichardt [AfD]: Sie zitieren nur altes Zeug! Das stimmt doch überhaupt nicht! Ist doch Quatsch!)

Sie wollen überhaupt nichts für die tun. Die tauchen bei Ihnen gar nicht auf und ihre Kinder auch nicht.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nachdem alles zu Ihren Anträgen gesagt ist, schließe ich mich dem Kollegen Schrodi an und sage, was für eine fortschrittliche Familienpolitik wir eigentlich bräuchten. Die Kollegin Tillmann von der CDU/CSU hat es gesagt: Familie ist da, wo Menschen füreinander sorgen. – Es ist übrigens völlig egal, ob die verheiratet sind, es ist völlig egal, ob ein Kind zwei Mütter oder zwei Väter hat. Es spielt überhaupt gar keine Rolle, ob das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil oder bei den Großeltern aufwächst. Das ist völlig wurscht. Familie ist da, wo füreinander Verantwortung übernommen wird.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deswegen müssen wir darüber reden, wie wir es schaffen, dass der Gesellschaft alle Kinder gleich viel wert sind. In dem Zusammenhang müssen wir über Kinderarmut reden. Frau Tillmann, da kann ich Ihnen eines nicht ersparen: Sie haben wundervoll die ganzen Maßnahmen der Regierung aus den letzten drei Jahren aufgezählt; die haben wir ja alle hier mit beschlossen. Wir waren häufig dagegen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber Sie müssen doch sagen, dass am Anfang der Wahlperiode 1,9 Millionen Kinder in der Grundsicherung gelebt haben, und am Ende der Wahlperiode leben immer noch 1,9 Millionen Kinder in der Grundsicherung. Es ist völlig egal, was Sie hier gemacht haben, weil Ihre Maßnahmen überhaupt nichts genützt haben, um Kinderarmut effektiv zu beseitigen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Weder die verdeckte Kinderarmut ist zurückgegangen noch die reale der Kinder, die in Grundsicherungs- und Hartz-IV-Haushalten leben. Die sind genauso arm wie vor drei Jahren.

Um das zu ändern, haben wir eine Kindergrundsicherung, die aus vier Säulen besteht, beschrieben. Wir schlagen eine Kindergrundsicherung vor, die erstens sicherstellt, dass jedes Kind der Gesellschaft gleich viel wert ist. Dass bei der SPD das Missverhältnis zwischen dem Kindergeld und dem Kinderfreibetrag jetzt auch angekommen ist, finde ich wunderbar, weil die Realität ist, dass ich als Bundestagsabgeordneter – wir gehören genau zu diesen Spitzenverdienern – mit drei Kindern vom Kinderfreibetrag über die Maßen profitiere. Das Kindergeld spielt ja bei uns gar keine Rolle mehr. Über 100 Euro bringt jedes meiner Kinder an geringerer Steuerlast. Wir haben ein Auseinanderfallen zwischen dem Kindergeld, das für die meisten normal Beschäftigten gilt, und der maximalen steuerlichen Entlastungswirkung aus dem Kinderfreibetrag, die stets um die 100 Euro über dem Kindergeld liegt. Ich finde – das ist die eine Säule –, das muss aufhören. Jedes Kind muss gleich viel wert sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Kindergeld muss mindestens so hoch sein wie die maximale steuerliche Entlastung aus dem Kinderfreibetrag.

Zweitens. Dann geht es um die richtig armen Familien, um die Geringverdiener, um die, die heute in der Grundsicherung sind und gerade so durchs Leben kommen, und häufig um die Kinder von Alleinerziehenden. Wir brauchen einen Zuschlag zu diesem Kindergeld. Der muss altersabhängig sein, weil natürlich die Bedarfe eines Kindergartenkindes geringer sind als die eines Grundschulkindes und noch mal geringer sind als diejenigen eines Kindes oder eines Jugendlichen, der kurz vor der Verselbstständigung steht.

Wir müssen drittens die tatsächlichen Unterkunftskosten berücksichtigen; auch das ist überhaupt nicht abgebildet. Wo finden denn gerade bei jungen Menschen die meisten Coronainfektionen statt? Bei denjenigen, die in schlechten Wohnverhältnissen leben, gerade weil die Kosten der Unterkunft nicht vernünftig gedeckt sind.

(Martin Reichardt [AfD]: Kinder sind keine Treiber der Pandemie! Hören Sie auf, gegen Kinder zu hetzen, Herr Müller!)

Also müssen wir auch die tatsächlichen Unterkunftskosten abbilden. Und wir müssen über einmalige Bedarfe und Sonderbedarfe reden.

(Martin Reichardt [AfD]: Ein kinderfeindlicher Hetzer sind Sie!)

– Also wirklich, dieser Geräuschpegel ist unglaublich nervtötend.

(Martin Reichardt [AfD]: Sie brüllen doch alles nieder!)

Wenn Sie wenigstens was Sinnvolles beizutragen hätten! Lesen Sie doch mal Ihre Anträge, was für einen Schrott Sie hier aufschreiben! Die würde ich nehmen, rausgehen und noch mal überarbeiten. Das haben die Kollegen ja schon ausreichend dargestellt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Markus Herbrand [FDP])

Wir wollen viertens, dass auch einmalige Bedarfe und Sonderbedarfe über eine Kindergrundsicherung gedeckt werden; denn wenn die Kinder auf Klassenfahrt fahren und das Einkommen der Eltern nur knapp über dem Existenzminimum liegt, dann muss man natürlich helfen, oder wenn die Jugendweihe oder Konfirmation ansteht, muss man möglicherweise helfen. Und Kinder brauchen durchaus vielleicht auch mal ein größeres Kinderzimmer; auch darüber muss man reden.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das, was wir vorschlagen, ist sozial gerecht, weil wir alle Kinder in den Mittelpunkt stellen. Das, was die AfD vorschlägt, ist das komplette Gegenteil. Das ist NS-Volksgemeinschaftsfamilienpolitik,

(Johannes Huber [AfD]: Bitte? Was ist das hier?)

und die braucht in Deutschland nun wirklich kein Mensch mehr.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der AfD)