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Norbert Müller: Kinder und Jugendliche in den Fokus nehmen

Rede von Norbert Müller,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute ein weiteres Mal zur Kernzeit die Lage von Kindern und Jugendlichen in dieser seit einem Jahr währenden Pandemie. Ich hätte angesichts der Dramatik der Situation eigentlich erwartet, dass auf der Regierungsbank der Bundesminister Spahn, die Kanzlerin, der Chef des Bundeskanzleramtes, die Bundesbildungsministerin Karliczek – vielleicht kennt der eine oder andere sie und hat sie mal gesehen –

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Da ist sie doch!)

– oh, Frau Karliczek sitzt da; das nehme ich zurück –,

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt ist eine Entschuldigung fällig!)

die Bundesjugendministerin Giffey oder Herr Scheuer – der soll ja neuerdings für die Teststrategie an Schulen und Kitas mit zuständig sein – sitzen. Die weitgehend gähnende Leere auf der Regierungsbank zeigt aber ein deutliches Desinteresse der Bundesregierung an der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie, und das zeigt die komplette Dramatik und auch die Probleme in dieser Situation.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Schwätzer!)

Meine Damen und Herren, ich bin Vater von drei Söhnen: ein zehnjähriges Schulkind, ein sechsjähriges Kitakind, das die Hälfte seines bewussten Erlebens in der Phase der Pandemie verbracht hat, und ein Zwerg, der mitten in der Pandemie geboren wurde. Meine drei Söhne haben erlebt, wie Schulen und Kitas geschlossen wurden, geöffnet und wieder geschlossen wurden, wie sie in Quarantäne mussten, weil Kinder, die sie teilweise nicht mal kannten, positiv auf Covid-19 getestet wurden. Sie haben seit einem Jahr keinen Normalzustand, selbst wenn sie mal in die Schule oder Kita gehen können. Kindergeburtstage sind ausgefallen, Freunde und Familie konnten nicht oder nur sehr eingeschränkt gesehen werden, Vereinssport findet seit einem Jahr nicht statt, Familienurlaube sind auch ausgefallen, monatelanges Homeschooling hat Schule in der Schule ersetzt.

Das geht allen 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland so; das geht ja nicht nur unseren Kindern so. Und vielen von ihnen geht es nicht so gut wie meinen eigenen Kindern: Sie haben Existenzängste, sind ökonomisch nicht so gut abgesichert und leben möglicherweise auch nicht in so guten Wohnverhältnissen. Sie sitzen auf 50 oder 60 Quadratmetern in Zweiraumwohnungen. In meinem Wahlkreis in Potsdam ist das die Realität für Familien mit zwei oder drei Kindern: in kleinen Wohnungen zu leben und diese Pandemie noch ganz anders zu erleben.

Wenn wir uns dann angucken, welche Priorität diese Situation für Bund und Länder hat, dann muss ich sagen: keine besonders große. Werfen wir doch einen Blick in den Beschluss von Bundeskanzlerin und Regierungschefs, der hier in den letzten Tagen viel diskutiert wurde. Schauen Sie sich nicht nur die Passagen zur sogenannten Osterruhe an; machen Sie sich vielmehr die Mühe, auf diesen sieben Seiten mal nach Äußerungen zu Familien mit Kindern zu suchen. Sie erzielen genau einen Treffer, nämlich wenn es darum geht, dass bei den Kontaktbeschränkungen zu Ostern Kinder unter 14 Jahre bei der Zählung der Hausstände ausgenommen sind; das ist die einzige Erwähnung. Ansonsten geht es noch um Schulen und Kitas und darum, dass perspektivisch, so sie irgendwann vorhanden sein sollten, dort zwei Tests in der Woche stattfinden sollen.

Wir reden seit einem Dreivierteljahr über Schnelltests; sie sind seit einem halben Jahr auf dem Markt. Es ist, ehrlich gesagt, überhaupt nicht hinzunehmen, dass es seit einem Dreivierteljahr bei den Treffen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten – ich meine alle – mit der Kanzlerin alle vier Wochen nicht um Kinder und Jugendliche geht. Es geht maximal darum, ob Abschlussklassen noch ihre Noten kriegen und Prüfungen machen können und wann die Schnelltests in den Schulen ankommen. Ich finde das eine völlig inakzeptable Situation.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun ist es ja nicht so, dass es keine Vorschläge der Opposition im letzten Jahr gegeben hat; das ist ja auch unser Job. Wir haben Vorschläge zur Teststrategie gemacht. Wir fordern seit einem Jahr regelmäßige Testungen in Schulen und Kitas. Das wäre schon längst überfällig gewesen. Stattdessen sah der Stufenplan des Robert-Koch-Instituts vom Oktober noch vor, dass Kinder in Schulen und Kitas, selbst wenn es zu Fällen kommt, gar nicht getestet werden sollen; sie gehen in Gruppenquarantäne und sollen gar nicht getestet werden, um Kapazitäten zu sparen.

Wir, alle Oppositionsfraktionen, haben Luftfilterprogramme in Schulen beantragt. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben Pandemieräte beantragt, um Kinder in Pandemieplänen überhaupt gesondert zu berücksichtigen. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben Pandemiezuschläge für Erzieherinnen und Erzieher beantragt, die arbeiten gehen müssen, für Beschäftigte in den Sozial- und Erziehungsberufen. Das haben Sie diese Woche erst abgelehnt. Wir haben Rettungs- und Investitionsprogramme für Jugendbildungsstätten und für die Jugendherbergen beantragt. Sie haben ein Miniprogramm aufgelegt; ansonsten haben Sie es abgelehnt. Wir haben Rettungsprogramme für die offene Kinder- und Jugendarbeit, für die Jugendverbandsarbeit, für die Jugendverbände beantragt. Das haben Sie abgelehnt.

Wir haben einen Kindergipfel beantragt. Nach zehn Monaten beantragt das auch die FDP; das begrüße ich sehr. Das haben Sie bei uns abgelehnt, das werden Sie bei der FDP auch ablehnen; das ist ja schon angekündigt worden. Wir haben Pandemiezuschläge auf die Grundsicherung beantragt, weil ärmste Familien am heftigsten betroffen sind. Das haben Sie immer und immer und immer wieder abgelehnt. Wir haben Vorschläge gemacht zur besseren digitalen Ausstattung in Familien, uns als Linke sogar darauf eingelassen, weil das der schnellste Weg gewesen wäre, über dieses ansonsten unselige Bildungs- und Teilhabepaket wenigstens eine digitale Grundsicherung einzuführen. Über die bestehenden Mittel im BuT sollten wenigstens Familien ausreichend ausgestattet werden. Auch das haben Sie abgelehnt.

Stattdessen diskutieren Kanzlerin, Bundesregierung und Ministerpräsidenten seit Monaten darüber, wie wir gewährleisten, dass Klausuren geschrieben werden und Abschlussarbeiten stattfinden. Das ist die einzige Priorität im ganzen Feld, die Sie hingekriegt haben. Und ehrlich gesagt, das Grundrecht auf Bildung auf ein Recht auf Noten zu verstümmeln, ist, finde ich, kaum auszuhalten und völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Antrag der AfD-Fraktion. Masken sind Ihr Lieblingsthema. Mein sechsjähriger Sohn, der in Potsdam in eine Kita geht – damit gilt für ihn Maskenpflicht –, hat ein geringeres Problem damit, eine Maske zu tragen als Sie.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Bettina Margarethe Wiesmann [CDU/CSU])

Im Gegenteil, manchmal muss man ihm nachmittags sagen: Du kannst die Maske übrigens auch zu Hause wieder absetzen. – Er hat auch Spaß daran, mit uns zusammen Masken auszusuchen. Das schädigt ihn null Komma null. Es stört ihn überhaupt nicht.

(Martin Reichardt [AfD]: Es geht um Freiwilligkeit!)

– Wissen Sie, es ist auch egal, ob es freiwillig ist oder nicht freiwillig ist. – Er ist froh, dass er wieder in die Kita gehen kann;

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

das konnte er im letzten Jahr monatelang gar nicht, das konnte er zu Beginn dieses Jahres monatelang gar nicht. Mein zehnjähriger Sohn ist froh, dass er in die Schule gehen darf. Ihn stört überhaupt nicht, ob er die Maske auf dem Schulhof oder in der Pause tragen muss oder nicht. Das ist doch nicht das zentrale Thema.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das zentrale Thema ist, wie wir hinkriegen, dass Schulen und Kitas öffnen können, und nicht, ob die Kinder dort eine Maske tragen müssen, nur weil Ihnen das nicht in den Kram passt.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Das hat er gar nicht gesagt!)

Ich finde, ehrlich gesagt, was Sie hier vorgelegt haben, ist – pardon – intellektueller Schwachsinn. Das Einzige, was Sie zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie beizutragen haben, ist, dass Masken das größte Problem sind. Auf die Idee muss man erst mal kommen.

(Martin Reichardt [AfD]: Das hat überhaupt niemand gesagt!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)