Zum Hauptinhalt springen

Norbert Müller: Bärendienst für die Kinder- und Jugendhilfe

Rede von Norbert Müller,

Guten Morgen, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Die Koalition verspricht mit dem heute vorgelegten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz eine umfassende Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Tatsächlich – das sagen auch wir als Fraktion Die Linke – hätte es einen umfassenden Reformbedarf in der Kinder- und Jugendhilfe gegeben.

Denken wir erstens an die völlig überlasteten Jugendämter. Wir haben gerade hier in Berlin, aber auch in allen anderen Jugendämtern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bis an die Belastungsgrenze arbeiten, die häufig für 100, 150 oder mehr Familien zuständig sind, denen sie helfen sollen, aber wo sie nur noch nach Aktenlage entscheiden können.

(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Regieren Sie in Berlin oder nicht?)

Wir haben erst vor zwei Jahren eine Studie vorgelegt bekommen, die besagt, dass allein im Allgemeinen Sozialen Dienst, also in den Jugendämtern, 16 000 Stellen fehlen; 16 000 Stellen, die wir in der Kinder- und Jugendhilfe gerade bräuchten. Deswegen haben wir als Linke heute einen Antrag vorgelegt, wie wir die Fachkräftesituation verbessern können. Dazu schweigt die Koalition sich aus.

(Beifall bei der LINKEN – Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Wer ist denn dafür zuständig in der Berliner Regierung? – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dann muss der Berliner Senat mehr Leute einstellen!)

Zweitens. Wir müssen über Careleaver reden. Auch das ist ein großes Thema der letzten Jahre, wo Sie nicht vorankommen. Careleaver das sind junge Menschen, die aus den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jungendhilfe kommen, die im allerbesten Fall in die Eigenständigkeit entlassen werden, aber nicht im Regelfall. Im Regelfall werden sie in Hartz‑IV-Systeme entlassen und im schlechtesten Fall in die Obdachlosigkeit; der Kollege Weinberg hat es angedeutet. Aber dann tun Sie doch was! Dann stärken Sie die Rechtsstellung von Careleavern! Verbessern Sie die Rechtsansprüche für junge Volljährige, damit sie nicht am 18. Geburtstag vor die Tür gesetzt werden!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen über eine bessere Ausstattung der Jugendverbände reden. Seit 30 Jahren steht im Sozialgesetzbuch VIII drin: Jugendverbände sind zu fördern. – Aber das ist am Ende völlig unverbindlich. Reden Sie doch mit den Kämmerern vor Ort in den Kreisen! Die sagen: Ja, das steht da drin, aber es gibt gar keinen richtigen Rechtsanspruch. Machen wir nicht, fällt aus, gibt die Kassenlage nicht her. – Im Zweifel kommt die Kommunalaufsicht und sagt: Ist eine freiwillige Leistung, fällt aus. – Genau das sind Punkte, da hätten wir für Stärkung sorgen müssen. Da legen Sie nichts vor.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen schlagen Sie im Wesentlichen einen Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe vor. Das will ich anhand von zwei Beispielen kurz darstellen.

Sie feiern sich für einen gestärkten Kinderschutz. Ich teile das ausdrücklich nicht. Kinderschutz in Deutschland basiert auf Vertrauen und Kooperation. Wir wollen Familien helfen. Ja, Kinder müssen aus Familien, in denen sie nicht bleiben können, rausgenommen werden. Aber der erste Ansatz ist, Familien zu helfen und die Kinder zu stärken. Was Sie mit den Meldepflichten für Ärzte jetzt tun, ist das komplette Gegenteil. Was passiert denn mit Kindern, die in einer Familie leben, in der es ihnen nicht gut geht? Gehen diese Eltern mit ihren Kindern jetzt häufiger zum Arzt, wenn sie wissen, dass diese Daten möglicherweise beim Jugendamt landen? Gehen sie jetzt häufiger zum Arzt? Nein, sie werden vielleicht häufiger umziehen, damit sie sich den U-Untersuchungen besser entziehen können. Sie werden nicht häufiger zum Arzt kommen. Was Sie hier vorschlagen, bringt nicht mehr Kinderschutz, es bringt weniger Kinderschutz. Über zehn Fachgesellschaften in der Kinder- und Jugendhilfe, im Prinzip die komplette Fachwelt, hat geschlossen vor diesem Weg gewarnt; und Sie gehen ihn trotzdem. Ich finde das fahrlässig.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Daniel Föst [FDP])

Ein Zweites. Sie sagen, Sie wollen Kinder im Sozialraum stärken. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Klar brauchen wir mehr Jugendklubs, mehr Sozialarbeit im Sozialraum. Das ist ja völlig richtig; aber das kann doch nicht anstelle individueller Rechtsansprüche treten; das kann doch nicht anstelle individueller Hilfen für Familien treten, die sie dringend brauchen. Wenn eine Familie einen Familienhelfer braucht, kann man doch nicht sagen: Wir haben da einen Streetworker im Jugendklub. Damit ist die Sache erledigt. – Das kann nicht sein. Wir wollen die individuellen Rechtsansprüche stärken;

(Beifall bei der LINKEN)

wir wollen mehr qualifiziertes Personal in der Kinder- und Jugendhilfe.

Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)