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Nicole Gohlke: Das Wissenschaftssystem grundlegend reformieren!

Rede von Nicole Gohlke,

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat heute eine Aktuelle Stunde beantragt, weil Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren zu teilweise miserablen Bedingungen arbeiten. Sie arbeiten aufgrund nur befristeter Verträge mit Laufzeiten von manchmal unter einem Jahr mit null Planungssicherheit. Sie arbeiten auf halben und auf Viertelstellen, von denen sich die Miete kaum zahlen lässt und bei denen Altersarmut vorprogrammiert ist. Mit Mitte 40 stehen sie dann oft wieder auf der Straße und sollen einen beruflichen Neuanfang hinbekommen.

Vor zwei Wochen war es dann so weit: Tausende Betroffene haben sich ihrem Ärger Luft gemacht. Beim Nachrichtendienst Twitter schreiben sie unter dem Hashtag #IchBinHanna von verbauten Karrierewegen und von ihren Existenzängsten. Auslöser für die Empörung war ein Video auf der Homepage des Bildungsministeriums, in dem eine fiktive Wissenschaftlerin namens Hanna das sogenannte Wissenschaftszeitvertragsgesetz schönredet, genau das Gesetz, das mitverantwortlich ist für die unhaltbaren Zustände. Man muss sich das an dieser Stelle wirklich mal reinziehen: Während der größte Teil der Beschäftigten in ständiger Angst lebt, arbeitslos zu werden, lässt das Ministerium die Comicfigur Hanna erzählen, wie dufte es eigentlich sei, dass es befristete Arbeitsverträge gibt, weil sonst die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das System verstopfen würden, und dass die ständige Fluktuation von Arbeitskräften Innovation fördere. Was für ein Hohn, Kolleginnen und Kollegen! Was für ein Hohn! Wie gut, dass es jetzt Widerstand gegen diese Verhöhnung gibt.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Historikerin schreibt auf Twitter, dass sie seit Monaten Schlafstörungen hat, weil das Wissenschaftszeitvertragsgesetz sie ab November arbeitslos machen wird. Eine Veterinärmedizinerin will nach zwölf – zwölf! – befristeten Arbeitsverträgen in Folge nach einer Anstellung auf einer Viertelstelle und jetzt der Ansage ihres Chefs: „Wer schwanger wird, bekommt den Vertrag nicht verlängert“, die Wissenschaft verlassen. Und viele, viele schreiben, dass sie Deutschland bereits verlassen haben, weil es für sie im Ausland bessere berufliche Perspektiven in der Wissenschaft gibt. Kolleginnen und Kollegen, die Situation ist dramatisch. Wir haben es längst mit einem Prekariat in der Wissenschaft zu tun, und das darf keinen Tag länger so bleiben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wie Sie auf diesen Protest reagieren, macht mich stellenweise wirklich fassungslos. Die zuständige Ministerin, Frau Karliczek, erklärt, sie sei nicht die richtige Adressatin für diesen Protest, und hofft, die Diskussion dadurch abzuwürgen, indem sie einfach das Video löschen lässt. Währenddessen erklärt die SPD, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz nicht mehr zu retten sei und dass sie jetzt – jetzt! – ein Gesetz für gute Arbeit in der Wissenschaft auf den Weg bringen will. Ich meine, ganz ehrlich: Ist Ihnen das nicht irgendwie peinlich?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor einer Stunde haben Sie hier im Plenum einen Antrag der Linken zu guter Arbeit in der Wissenschaft abgelehnt.

(Oliver Kaczmarek [SPD]: Ja, zu Recht!)

Das ist die Wahrheit.

Sie, die Union und die SPD, haben 2007 das Wissenschaftszeitvertragsgesetz überhaupt erst auf den Weg gebracht. Dagegengestimmt hat damals Die Linke. Meine Kollegin Petra Sitte hat hier an diesem Pult vor den Auswirkungen dieses Gesetzes von der ersten Stunde an gewarnt. 2016 haben Union und SPD – und das erst nach ungeheurem Druck aus den Gewerkschaften – das Gesetz reformiert, aber eben völlig ungenügend reformiert. Wir haben vor den Auswirkungen dieser ungenügenden Reform gewarnt. Und seit 2017 verhindern Sie beide, dass das Gesetz noch mal reformiert wird. Sie haben es versäumt, die Länder und die Hochschulen auf konkrete Zielquoten bei der Entfristung von Stellen festzulegen, und damit haben Sie eine weitere Generation an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um ihre Perspektiven betrogen. Ganz ehrlich, Kolleginnen und Kollegen: In der Regierung geht es darum, Verantwortung zu übernehmen,

(Oliver Kaczmarek [SPD]: Richtig!)

und es geht darum, Rückgrat zu zeigen. Die Große Koalition kann weder das eine noch das andere, und das ist beschämend.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist völlig klar, was jetzt zu tun ist. Im Gesetz muss sichergestellt werden, dass der Qualifikationsbegriff nicht länger missbraucht werden kann. Verträge müssen mindestens so lange laufen, dass eine Promotion oder ein Projekt überhaupt abgeschlossen werden kann, und die Gewerkschaften müssen auch in der Wissenschaft das Recht haben, eigene tarifvertragliche Regelungen auszuhandeln. Es geht um den Einstieg in eine andere Logik, in die Logik von Dauerstellen für Daueraufgaben.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP] und des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es braucht dauerhafte Stellen für all die Aufgaben, die an den Hochschulen und in der Forschung tagtäglich zu leisten sind: für die Lehre, für die Betreuung von fast 3 Millionen Studierenden, für die Wissenschaftskommunikation, für das Wissenschaftsmanagement. Für all das braucht es feste Stellen. Denn die Wahrheit ist, dass unsichere Jobs und eine hohe Fluktuation nicht die Qualität stärken, wie Sie das immer behaupten, sondern die Löhne drücken und die Demokratie schwächen. So darf unser Wissenschaftssystem nicht aussehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage hier ganz klar: Ein Sonderbefristungsrecht für die Wissenschaft muss entweder Grundlage sein für gute Arbeit, oder es muss weg.

Dafür wird die Linke weiter kämpfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)