Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht nur die Wirtschaft in Ostdeutschland hinkt dem Westen hinterher; auch der Einheitsbericht ist nicht auf der Höhe der Zeit. Die Menschen in Ostdeutschland wissen ja längst, dass sie knapp 20 Prozent weniger verdienen. Sie wissen bereits, dass sie in Erfurt weniger Rentenansprüche erwerben als in Kiel.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Stimmt nicht!)
Und dass die jungen Leute in der Prignitz fehlen, dürfte seit 1990 auch niemandem entgangen sein – und ebenso, dass Großbetriebe in den neuen Ländern fehlen; die, die es hätte geben können, wurden doch oft von der Treuhand plattgemacht.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit!)
Ich hoffe, dass Ihre zaghaften Eingeständnisse, die ich heute gehört habe, nicht zu spät kommen. Im Osten ist der Vertrauensverlust gegenüber Staat und Parteien mit Händen zu greifen. Es geht nicht mehr allein um die Frage, wie groß der Abstand bei Renten, Löhnen, Wirtschaftskraft ist; es geht um den Abstand an sich, und es geht um die Zurücksetzung der Ostdeutschen, die sich seit 28 Jahren verfestigt, anstatt zu schwinden; der Staatssekretär hat es eben noch mal erwähnt.
Herr Dulig, wenn Sie auf die Rentenungerechtigkeit hinweisen, freut mich das. Ich will allerdings die Frage stellen, welche Partei für die aktuelle Rentenpolitik Verantwortung trägt.
(Beifall bei der LINKEN)
Man muss den Leuten nur zuhören. Bei jedem größeren Familientreffen werden solche Gespräche geführt, und alle diejenigen, die alt genug sind, wissen beispielsweise, wer seit fast drei Jahrzehnten die Leitungs- und Topfunktionen in den neuen Bundesländern besetzt. Der WDR hat es neulich aufbereitet, und ich will es hier wiederholen. Schauen wir uns mal Leipzig an – eine schöne Stadt. Der Oberbürgermeister ist in Siegen geboren. Die Rektorin der Uni kommt aus Kassel, der Sparkassendirektor aus Wuppertal. Die Chefin der Staatsanwaltschaft ist gebürtig aus Lindlar. Der Präsident des Landgerichts kommt aus Dillenburg, der Präsident des Amtsgerichts aus Osnabrück. Nur aus Leipzig oder einer anderen ostdeutschen Stadt kommt in dieser Liste niemand, und die Leute haben das satt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
Es geht bei dieser Frage nicht um die Fähigkeit des Einzelnen, obwohl man auch sagen muss, dass nach 1990 nicht immer nur die Besten in den Osten gekommen sind.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Treuhand!)
Es geht darum, dass es zur Regel geworden ist und darum, dass Ostdeutsche fast keine Chance haben, in der eigenen Region Spitzenfunktionen einzunehmen – und noch gravierender: dass sich dieser Trend fortsetzt.
Die Leute haben nicht vergessen, wie viele Glücksritter in den 90er-Jahren kamen und nach den Filetstücken schnappten, und da geht es natürlich auch um eine Verkettung mit den Erfahrungen mit der Treuhand. Die Ostdeutschen haben die Demokratie gewählt, erkämpft – und die Treuhand gleich noch mit bekommen. Da war schon wieder Schluss mit der Mitbestimmung, um die es eigentlich ging. Aus einer Volkswirtschaft wurde über Nacht eine Altlast, und aus Kollektiven wurden Arbeitslose. Im Osten ist kein Stein auf dem anderen geblieben nach 1990.
Der Umstieg auf die Privatwirtschaft war sicherlich die bittere Stunde der Wahrheit hinsichtlich Produktivität und Effizienz der DDR-Wirtschaft, aber es gab eben auch die Bereinigung der Ostwirtschaft im großen Stil, um Platz zu machen für die westdeutsche Konkurrenz. All dies gehört endlich öffentlich aufgearbeitet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich freue mich, wenn ich das jetzt auch von Union und SPD höre. Es kommt ein bisschen spät. Ich hoffe, es kommt nicht zu spät.
Was damals zerschlagen wurde, hat – daran hat sich nicht viel geändert – den Osten ein Stück weit zu einer Sonderwirtschaftszone gemacht.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber im schlechten Sinne, nicht im guten!)
Es ist immer noch Tatsache, dass 30 Prozent im Osten nur von Niedriglöhnen von unter 10 Euro leben. Der Durchschnittsverdienst für Vollzeitbeschäftigte liegt bei 2 700 Euro. In Westdeutschland verdient man im Schnitt 600 Euro mehr. Dagegen gibt es immer wieder den Einwand, ja, die Miete und der Restaurantbesuch seien in Jena viel günstiger als in München. Aber es geht dabei nicht nur um einen Abend mehr oder weniger im Restaurant; es geht um andere Größenordnungen.
Laut Deutschem Aktieninstitut besaßen 2017 in Magdeburg 1 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Aktien. In Hamburg-Harburg waren es 35 Prozent, in Starnberg in Bayern 66 Prozent. Das Nettogeldvermögen in Ostdeutschland lag 2016 bei der Hälfte der Einwohner unter 25 000 Euro; in Süddeutschland lag diese Grenze bei über 100 000 Euro. Das ist kein Abendessen mehr; das ist das ganze Restaurant, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen ist meine Bitte und auch mein Appell an die Bundesregierung, aber auch an Unternehmen, Universitäten, die Verlagshäuser: Denken Sie um, und prüfen Sie alles, was gesetzlich und innerbetrieblich möglich ist, um die Ostdeutschen nicht weiter zu beschämen und um ihnen Aufstiegschancen zu ermöglichen! Ich will Ihnen versprechen: Wenn die Bayerische Staatsregierung mehrheitlich ostdeutsch besetzt ist, höre ich auf, über die Benachteiligung der Ostdeutschen zu reden.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Politik der vergangenen 28 Jahre hat die Ostdeutschen zwangsweise als eine soziale Gruppe definiert – und das muss man erst mal schaffen,
(Marian Wendt [CDU/CSU]: Falsch!)
weil viele DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger nach 1989 damit gar nicht schnell genug brechen konnten. Das System stürzte zugunsten neuer politischer und persönlicher Freizügigkeit zusammen. Die Menschen hatten im Herbst 1989 ihre Freiheit für die Freiheit riskiert. Jetzt gibt es auch wieder Montagsdemonstrationen. Ausgerechnet da, wo Menschen 1989 für ihre politischen Grund- und Freiheitsrechte gekämpft haben, ausgerechnet da werden nun diese Rechte für andere bestritten.
(Zuruf des Abg. Marian Wendt [CDU/CSU])
Ich warne vor Naivität gegenüber dem, was sich dort zusammenschiebt.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])
Es gibt einen neuen und auch gefährlichen Angriff auf die liberale Demokratie, und es gibt viele Wählerinnen und Demonstranten, denen es nicht um mehr selbstbewusste Ostdeutsche geht
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein!)
und denen es auch nicht um weniger Armut bei Kindern oder im Alter geht, ob nun in Ost oder in West; es geht um eine Ablehnung alles vermeintlich Fremden und eine Riesenwatsche an die sogenannten „die da oben“.
Ich will auch sagen: Ich habe den Eindruck, auch in der Bundesregierung gibt es Vertreter, die denken: Wer den Druck auf Flüchtlinge und Einwanderer verstärkt, nimmt sich selber aus der Schusslinie. – Dieser Rechtspopulismus verschmilzt mit dem Gerede vom Staatsversagen, aber dieser Rechtsruck stabilisiert gar nichts. Die schweren Fehler, die die Bundesregierung mit dem Abbau des Sozialstaats begangen hat, heilt man nicht, indem man jetzt die Grundrechte von Migranten und Flüchtlingen einschränkt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr richtig!)
Deswegen bin ich froh, dass auch und gerade in Ostdeutschland viele Menschen, zuletzt in Chemnitz, sich diesem Trend widersetzt haben und auf die Straße gegangen sind. Denen will ich danken.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Misstrauen wir allen Fürreden für autoritäre Lösungen; die Leute wollen ja nicht die DDR zurück. Sie messen die Bundesrepublik lediglich an ihren eigenen Maßstäben, nämlich am Grundgesetz: gleichwertige Lebensverhältnisse, Diskriminierungsverbote und eine Marktwirtschaft, die eine soziale sein sollte. Diese Maßstäbe sollten eben für alle gelten, auch für Ostdeutsche.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)